Befreiung der Formen und Farben

Expressionismus

ca. 1905–1925

Expressionismus: Gemeinsam für die Revolution

Das 20. Jahrhundert beginnt mit mit mehreren Paukenschlägen. Sigmund Freud entdeckt das Unbewusste, die Brüder Lumière erfinden das Kino und die Brüder Wright erobern die Lüfte. Das Leben in der Moderne ist abgründiger geworden, bildreicher und vor allem – schneller. In Deutschland reagieren die Künstler mit einer Revolution. Sie wollen die Farben und Formen aus der Gefangenschaft der Gegenständlichkeit befreien. Nicht wie die Dinge erscheinen, soll wichtig sein, sondern wie sie empfunden werden. Und weil eine solche Revolution nur gemeinsam gelingt, schließen sich die Künstler in Gruppen zusammen. In Dresden formiert sich Die Brücke, in München Der Blaue Reiter. Die gemeinsame Losung lautet »Expressionismus«. Und das Ziel heißt »Abstraktion«.

Der Einfluss des Blauen Reiters auf die Entwicklung der Malerei des 20. Jahrhunderts ist kaum zu überschätzen. Dabei ist die Gruppe im Inneren deutlich weniger stabil und harmonisch, als sie von außen erscheint. Spannungen in Fragen der künstlerischen Ausrichtung und des sich abzeichnenden Krieges führen zu einer Entfremdung der Mitglieder. Im Sommer 1914 wird sie sich auflösen. Zu früh für den damals gerade 25-jährigen, aufstrebenden Heinrich Campendonk, der vom Nimbus des Blauen Reiters kaum noch profitiert.

Am Anfang ist der Expressionismus noch ein deutsches Phänomen. Während der Kubismus in Frankreich das perspektivische Sehen zerlegt und der Futurismus in Italien den Fortschritt feiert, versucht sich die deutsche Avantgarde an der Befreiung von Formen und Farben. Der Expressionismus ist damit auch als Gegenbewegung zum früheren Impressionismus zu verstehen. Wichtig ist nicht mehr, wie uns die Dinge erscheinen, sondern wie sich der Künstler in ihnen ausdrückt. Ein Perspektivwechsel: statt von außen nach innen, wird nun von innen nach außen gedacht. Die Künstlergruppe des Blauen Reiters steht im Zentrum dieser Revolution. Formen und Farben sind nicht mehr an die Gegenständlichkeit gebunden, sondern dienen jetzt allein der künstlerischen Ausdruckskraft.

Wolfgang Beltracchi in Murnau
Wolfgang Beltracchi malt im Juni 2017 das Gruppenportrait des Blauen Reiters vor dem Münter-Haus in Murnau. Die Vorzeichnungen hat er vorab in seinem Atelier angefertigt.
Heinrich Campendonk, Jahrgang 1889 und das jüngste Mitglied des Blauen Reiters, hatte der Gruppe künstlerisch fast alles zu verdanken. Seine stilistische Entwicklung, die zunächst vom französischen Kubismus, dann von Franz Marc, später zunehmend von Kandinksy beeinflusst wurde, erreichte 1914, im Jahr der Auflösung des Blauen Reiters, ihren Höhepunkt. Campendonk muss die Auflösungserscheinungen der Gruppe als besonders tragisch empfunden haben. Ausgerechnet jetzt, da er zu einem eigenen Stil gefunden hatte, zerstreuten sich die Freunde in alle Himmelsrichtungen. In einer Vorahnung dieser Entwicklung hätte Campendonk im Sommer 1914 das Gruppenportrait als eine letzte Reminiszenz an glücklichere Zeiten malen können. Wolfgang Beltracchi entwirft das Gruppenportrait in den beträchtlichen Maßen von 190 x 275 cm. Das Format ist eine Anspielung auf die turbulente Geburtsstunde des Blauen Reiters. Kandinksy hatte 1911 ein abstraktes Gemälde mit exakt diesen Abmessungen bei der Neuen Künstlervereinigung München eingereicht. Das Gemälde fiel, wie von Kandinsky erwartet, bei der Jury durch. Damit war der Weg für die neue Gruppe um Kandinsky, Marc und Münter frei. 
Skizze für das Gemälde

Ein erster Entwurf für das Gruppenbild der Blauen Reiter, das Beltracchi in der künstlerischen Handschrift Heinrich Campendonks malen wird. Die Darstellung der sechs unterschiedlichen Persönlichkeiten und deren Malstile stellen die Bildkomposition vor eine enorme Herausforderung. Wie wird sie allen dargestellten Malern und Malerinnen des Blauen Reiters gerecht?

Unterzeichnung des Gemäldes

In seinem schweizer Atelier führt Wolfgang Beltracchi die Unterzeichnung aus. Auf der Leinwand mit den beträchtlichen Maßen von 190 x 275 cm ist sie auch für die Orientierung unerlässlich.

Beltracchi malt Kandinsky

In den Gesichtern der sechs abgebildetes Künstler wird die Unterzeichnung fixiert, damit die Konturen auch nach der Übermalung noch teilweise durchscheinen.

Beltracchi malt vor dem Münter-Haus

Wolfgang Beltracchi malt das Münter-Haus vor Ort in Murnau. Er nimmt dabei die Perspektive ein, die auch die dargestellten Maler des Blauen Reiters einnehmen sollen. Denn Beltracchi malt nicht einfach nur Kandinsky, Marc und all die anderen in der Handschrift von Heinrich Campendonk. Er malt auch, verschiedenen Gemälde auf den Staffeleien in den entsprechenden Handschriften der dargestellten Künstler, wie die Künstler das Münter-Haus hätten malen können.

Expressionismus

Der Blaue Reiter und Die Brücke gelten als die zwei prägenden Künstlergruppen des deutschen Expressionismus. Ihr Einfluss auf die Malerei des 20. Jahrhunderts war enorm. Dabei waren beide Gruppen nicht eben langlebig. Die Brücke existierte acht Jahre lang, der Blaue Reiter gerade einmal drei.

1. Von innen nach außen

Vom Impressionismus zum Expressionismus vollzieht sich eine 180-Gradwendung. Der Impressionismus gilt als eine Strömung, die die Welt so wiedergeben wollte, wie dem Künstler in seinem Innern erschien. Der Expressionismus (von lat. »expressio«, ›Ausdruck‹) kehrt diese Richtung um. Von nun an soll sich das Innere des Künstlers in den dargestellten Dingen ausdrücken. Farben und Formen sind damit nicht mehr an Gegenstände gebunden, sondern richten sich nach dem künstlerischen Ausdruck.

2. Deutsch-russische Verbindung

Mit Kandinsky, Werefkin und Jawlensky stammen gleich drei Maler des Blauen Reiters aus Russland. Der erste Weltkrieg beendet diese deutsch-russische Kooperation. Kandinsky, Werefkin und Jawlensky müssen Deutschland fluchtartig verlassen. Marc und Macke fallen auf den Schlachtfeldern in Frankreich.

3. Kunst in Praxis und Theorie

Die Künstler des Blauen Reiters sind nicht nur mit dem Pinsel produktiv, sondern auch mit der Feder. Vor allem Kandinsky und Marc verfassen zahlreiche Schriften, die die Revolution des Expressionismus kunsttheoretisch begleiten sollen. Dieses Nachdenken über die eigene Arbeit und den künstlerischen Weg stellt dabei die Deutungshoheit der Kritiker in Frage. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist auch das Avantgarde.

4. Über die Malerei hinaus

Die Revolution des Expressionismus findet nicht nur in der Malerei statt. Die Befreiung von Formen und Farben korrespondiert in der Musik mit der Befreiung der Harmonien von der Tonalität und in der Dichtung mit der des Klangs von der Bedeutung. Malerei, Musik, Dichtung: Dieses Dreigespann der Künste spiegelt sich auch im Leben der Künstler wieder. Franz Marc ist eng mit der expressionistischen Dichterin Else Lasker-Schüler befreundet. Und Arnold Schönberg, Komponist und Gelegenheitsmaler, wird mit einem Selbstportrait in der Gründungsausstellung des Blauen Reiters gezeigt.

5. Ein fataler Irrtum

Den über Europa hereinbrechenden Krieg empfinden viele Künstler Deutschlands als eine Naturgewalt und reinigende Kraft. Franz Marc ist überzeugt, der Krieg sei ein »heilsamer, wenn auch grausamer Durchgang«. Die Stimmung ist nach Aufbruch und Veränderung. Doch Marc und seine Mitstreiter verwechseln die ästhetische Revolution mit dem realen Grauen des Krieges.  Die Einsicht kommt auf dem Schlachtfeld: »Der Krieg ist von einer namenlosen Grausamkeit. Man ist weg, eh man’s merkt«, schreibt Macke von der Front. Macke, Marc und viele andere Künstler dieser Zeit bezahlen ihren Irrtum mit dem Leben.

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