Kairos. Der Richtige Moment
Avant-garde
Hans Ulrich Gumbrecht
»Avantgarde«
Kunst-Energien aus einer offenen Zukunft?
Im Jahr 1890, zu einer Zeit, als keine Beschreibung der Gegenwart ohne substantielle Begriffe von der “Moderne” auskommen konnte, stellte der Literaturkritiker Otto Brahm seinen Eröffnungsartikel “Zum Beginn” der neugegründeten Zeitschrift “Freie Bühne für modernes Leben” unter ein damals überraschendes Vorzeichen der Polemik: “an keine Formel,” schrieb er, “auch an die jüngste nicht,” solle “die unnendliche Entwicklung menschlicher Kultur gebunden” werden. Bewusst oder vorbewusst brachte er so die historische Bewegung einer fortschreitenden Verkürzung und mit ihr wachsenden Emphase im Blick auf die je eigene Zeit an ihr Ende, welche den ersten und vielleicht deutlichsten Ausdruck mit Charles Baudelaires Formel von der Gegenwart als “unwahrnehmbar kurzem Moment des Übergangs” aus dem “Peintre de la Vie Moderne” von 1858 gefunden hatte. Bei Brahm war die prinzipiell flüchtige Gegenwart nun am Nullpunkt ihrer zeitlichen wie inhaltlichen Verjüngung angekommen und gleichbedeutend geworden mit einer in der beständigen Umformung menschlicher Kultur wirksamen Dynamik.
Um den Stellenwert dieser entschlossenen Positionsnahme in ihrem weiteren historischen Kontext zu erfassen, helfen uns vor allem zeitgenössische Dokumente aus Frankreich. Dort schlug etwa Antoine Albalat in einer Kritik von Emile Zolas Programmschriften des Naturalismus seinen Lesern vor, das Konzept “Moderne” zu ersetzen durch die Formel “dans-le-mouvement” – die nur noch einen kurzen Schritt entfernt war von der ursprünglich miltärischen Metapher der “Avantgarden” als Inbegriff bewegter Jetzt-Zeit. Mit jenem aufgrund seiner heftigen Resonanz heute längst banal gewordenen Wort wurde das Gegenwartsverständnis paradoxal, weil es das Jetzt in eine Vorwegnahme der Zukunft verwandelte. Anders gesagt: an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert verschob sich der Ort der Gegenwart in den dominanten Zeitstrukturen westlicher Kultur vom Ende einer in ihrer Abfolge als “notwendig” gedeuteten Vergangenheit hin zum Beginn einer offenen, noch zu gestaltenden Zukunft. Existentiell gesehen war die Zeit als “Geschichte” nun nicht mehr schicksalshafte Festlegung durch Vorausgegangenes, sondern ein Horizont für die Selektion neuer Welten.
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Dieser zugleich sehr abstrakte und doch allgegenwärtig wirksame Rahmen des Handelns mag die vielfache Emergenz neuer Formen von Gesellschaftlichkeit und Praxis unter den Künstlern und Literaten jener Jahre erklären. Vor allem gegen den Hintergrund von sich selbst zu heroischem und gleichsam transzendentalem Anspruch erhebenden Gestalten wie Richard Wagner wird eine Tendenz der zwischen 1880 und 1895 – also in die Generation von Hitler und Stalin, Heidegger und Wittgenstein — geborenen Autoren, Komponisten und bildenden Künstler sichtbar, in Gruppen zusammenzuarbeiten und die Öffentlichkeit zu suchen: “Dada,” “Surrealismus,” “Futurismus,” “Kreationismus” oder “Blauer Reiter” sind nur einige der berühmtesten einschlägigen Namen. Meist standen am Anfang solcher Konvergenz gemeinsame Reaktionen der Ablehnung gegen überlieferte Grenzvorstellungen, zum Beispiel für die Malergemeinschaft vom “Blauen Reiter” ein Protest gegen die Ablehnung von Wasily Kandinskys Bildern bei einer Ausstellung der Neuen Künstlervereinigung München.
Solch konkrete Akte und Ansätze zur Befreiung von Vergangenheiten öffneten sich dann häufig auf weite Spektren der Assoziation und des Denkens. Sie waren inspiriert von zentralen, weil charismatischen Protagonisten aus verschiedenen Ländern und Traditionen, wie etwa Kandinsky, Pablo Picasso, André Breton, Paul Klee, Gertrud Stein und später Peggy Guggenheim, um die sich immer neue Freunde, Bewunderer und Konkurrenten scharten. Was sie über den jeweiligen Initialimpuls des Widerstands hinaus verband, blieb manchmal so vage wie beim “Blauen Reiter,” dessen Namen bis heute kein Kunsthistoriker in seinem programmatischen Anspruch zu entschlüsseln vermocht hat, konnte sich aber auf der anderen Seite auch zu drastisch formulierten Programmschriften verdichten wie zu dem berühmten “Manifesto del Futurismo” von Filippo Tommaso Marinetti aus dem Jahr 1910, das heißt zu Texten einer Gattung, deren Vorgriffe die Wirklichkeit der von ihnen zu begründenen ästhetischen Formen meist überschossen. Und doch trug jede Gruppe und jedes Manifest zur Entstehung von Räumen eines Experimentierens bei, das in der Tat auf Vorwegnehmen und Gestalten von Welten der Zukunft aus war.
Es gab Experimente auf philosophischer und oft auch medienpragmatischer Ebene wie im Werk von Umberto Boccioni, der besessen war von der letztlich nicht zu lösenden Aufgabe, die Dynamik von Bewegungen – etwa die Bewegungen eines Radfahrers – in der zwei -und dreidimensionalen Statik von Gemälden oder Skulpturen zu erfassen; Experimente wie den von afrikanischer Kunst inspirierten analytischen Kubismus, an dessen Beginn Picassos “Desmoiselles d’Avignon” standen und der Versuch, verschiedene Perspektiven auf einen Gegenstand zuerst zu unterscheiden und voneinander zu trennen, um sie dann in der spannungsvollen Simultanität eines Werks zusammenzuführen; Experimente mit Materialien, die bis dahin gerade nicht zum Repertoire der Künste gehört hatten, wie den Fragmenten von bedrucktem (und vergilbendem) Zeitungspapier in den Collagen von Georges Braque; Experimente schließlich mit der Variation von damals neuen Möglichkeiten der Technik wie den “Photogrammen” von Christian Schad oder Man Ray, welche Photopapier ohne die Zwischeninstanz einer Kamera belichteten, um die Unmittelbarkeit eines Moments von Licht zu verewigen.
Mehr als solch spezifische Verfahren und Formen aber prägten eine besondere Stimmung und ihr Ton den historischen Moment der Avantgarden in seiner materiellen Substanz und kulturellen Identität. Kein Wort war ihren Protagonisten zu anspruchsvoll oder exzentrisch, keine Geste zu provokant, keine Kritik zu scharf und keine Zukunftsvorstellung zu unwahrscheinlich, um eingeklammert oder gar zurückgenommen zu werden. Kunst sollte nun den Alltag durchdringen und erneuern, statt in der Distanz ästhetischer Autonomie oder in narzisstischer Konzentration auf sich selbst zu verharren. Nicht weniger als Führer der Politiker auf dem Weg ihrer Gesellschften in die Zukunft wollten viele der Komponisten und Musiker, der Architekten, Designer und Schriftsteller aus den Avantgarden sein.
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Der Ausbruch des Weltkriegs im August 1914 traf sie alle in einer noch frühen Phase des Lebens, wo die physische – und mithin auch militärische — Leistungsfähigkeit ihren Höhepunkt erreicht. Deshalb wohl sahen die meisten Avantgardisten ihre Teilnahme an den Kämpfen zunächst wie eine selbstverständliche Option für Intensität an. Doch die sich entbergende Wirklichkeit der von neuen Technologien beherrschten “Materialschlachten,” in denen Tapferkeit zur absurden Geste verkam und Helden als “Kanonenfutter” starben, holte bald ihren Optimismus ein und sollte ihr Verhältnis zu Gesellschaft, Nation und Politik für immer verdunkeln. “Am ersten August 1914 starb M.E.,” heißt es in der Autobiographie des Künstlers Max Ernst. “Am elften November 1918 wurde er wiedererweckt.” Eine deprimierende Verzerrung von Wirklichkeiten legte sich für immer — statt seines vorher an der Transparenz der Klassiker ausgerichteten Stils — über die Gemälden von Max Beckmann, der freiwillig in den Frontkrieg eingetreten war. Und nachdem Umberto Boccioni in einem “Freilwiiigen-Bataillon von Rad- und Motorradfahrern” an mehreren Schlachten auf norditalienischem Territorium teilgenommen hatte, wurde er im August 1916 bei einer Kavallerieübung von seinem Pferd zu Tode getrampelt.
Keine der überlieferten Weltbilder und Gesellschaftsstrukturen, aber auch keine der vorher so laut bejahten Werte des individuellen Lebens boten sich am Ende dieses Kriegs noch als Orientierung für die Gestaltung der Zukunft an, die nun nicht mehr einfach offen, sondern gerade aufgrund ihrer ganz anderen neuen Offenheit bedrohlich erschien. Dies war die Ausgangsbedingung, unter der die Jahrzehnte zwischen den Weltkriegen zur Epoche der großen ideologischen Antagonismen wurden, welche die fast plötzlich entstandene existentielle Leere und Unsicherheit mit totalitären und in ihrer Kohärenz stets aggressiven Gedankengebäuden zu erfüllen und festzulegen versuchten. Der von Italien ausgehende und durch den Dichter Gabriele d’Annunzio entscheidend mitgestaltete, ja während einer sechzehnmonatigen “poetischen” Herrschaft über die Stadt Fiume (das heutige “Rijeka” in Kroatien) von ihm geradezu erfundene Faschismus inszenierte sich als Rückkehr zu den Mythen nationaler Vergangenheiten, während der seit der Oktoberrevolution von 1917 zur Wirklichkeit gewordene Kommunismus der Sowjetunion im Stil der Geschichtsphilosophie von Hegel und Marx all seine Versprechen auf Vollendung kollektiven Glücks in eine nahe Zukunft verlegte.
Schon allein dieser grundlegende Unterschied zwischen den beiden ideologischen Blöcken im Bezug auf Zeitlichkeit lässt plausibel erscheinen, warum die Avantgardisten der Vorkriegszeit fast ohne Ausnahme einerseits ihre politische Affinität auf der Seite der Linken suchten — und andererseits aus der nationalen Öffentlichkeit der entstehenden faschistischen Nationen verdrängt wurden. Vor allem im nationalsozialistischen Deutschland sahen sich Künstler wie Max Beckmann, Heinrich Campendonk, Otto Dix, Max Ernst oder George Grosz schon bald mit geradezu bürokratischer Gnadenlosigkeit ins Abseits der “entarteten Kunst” verbannt und hatten keine andere Wahl als die Emigration. Beckmann und Campendonk fanden in Amsterdam Jahre der Ruhe und künstlerischen Konzentration – bis hin deutschen Besatzung Hollands im Zweiten Weltkrieg. Grosz, ursprünglich entschlossener Sozialist, fand eine neue Existenz in der Vereinigten Staaten, wo auch Max Beckmann die letzten Jahre seines Lebens verbringen sollte. Max Ernst lebte als Teil eines spannungsvollen und doch eigentümlichen stabilen Dreieicksverhätlnisses mit dem Dichter Paul Eluard und seiner Frau in Frankreich, wo er aufgrund seiner Freundschaft zu André Breton Teil der linken Künstler-Avantgarde blieb.
Doch selbst die Nähe zu Sozialismus und Kommunismus blieb bei dieser vom Krieg nachhaltig ernüchterten Generation nur da von Dauer, wo sie auf die gemeinsame Ablehnung ideologischer Antagonisten und auf vage inhaltliche Konturen beschränkt blieb. Breton, der noch am ehsten bemüht war, das Selbstverständnis des Surrealismus auf Konvergenzkurs mit linker Ideologie zu halten, verfiel bald in eine sich immer weiter steigernde Manie des Auschließens von “Abweichlern.” Allein Pablo Picasso, dessen Freunde – meist in freundschaftlicher Ironie — davon ausgingen, dass er nie einen Satz von Karl Marx gelesen habe, gelangen einige Momente und Werke der Vermittlung zwischen seinen politischen Sympathien und der Praxis als Künstler.
Guernica,” sein aus verschiedenen Perspekiven und Gründen so singulär kanonisiertes Bild, hatte Picasso als Protest gegen die Bombardierung einer baskischen Stadt durch die deutsche “Legion Condor” im Bürgerkrieg seines Landes gemalt — und für den Pavillon der spanischen Republik auf der Pariser Weltausstellung von 1937. Doch die Resonanz, die “Guernica” bis heute findet, hat sich ein gutes Stück vom ideologischen Rahmen seiner Entstehungsgeschichte abgesetzt. Statt ausschließlich eine lokale Episode der Grausamkeit und des Grauens zu dokumentieren, bringt das Bild für uns den im Ersten Weltkrieg zum ersten Mal erlebten Schrecken der menschlichen Wehrlosigkeit gegenüber menschlicher Technologie zum Ausdruck – und zwar mit heute zu Menschlichkeits-Emblemen gewordenen Formen, wie sie ohne Picassos kubistische Experimente nicht hätten entstehen können. Hier hatte das künstlerisch motivierte Experimentieren tatsächlich Techniken und Instrumente politischer Intervention hervorgebracht.
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Langfristig gesehen hatte in den Werken und Lebensgeschichten der Avantgardisten eine anhaltende Krisenspannung zwischen den aus der Aufklärung hernvorgegangenen bürgerlichen Gesellschaften und ihren Künstlern endlich einen neuen Horizont möglicher Vermittlungen erreicht. Schon in den romantischen Bewegungen des frühen neunzehnten Jahrhunderts wollten sich viele von ihnen als “Individuen” erleben und verhalten, genauer: nicht als “Bürger” in den ihnen von Revolutionen und Reformen jener Zeit zugewiesen organischen Rollen, sondern eher als von den sozialen Institutionen ausgeschlossene Opfer. Wenige Jahrzehnte später erwuchs dann eben aus dieser Position eine Haltung der Aggression und Provokation gegenüber den etablierten sozialen Funktionsträgern, welche den Künstlern und Autoren im gesetzten Bürgertum jener Zeit einen Ruf der Verantwortungslosigkeit einbrachte. Gustave Flaubert hat darauf in seinem “Notizbuch der Gemeinplätze” ironisch Bezug genommen: “KÜNSTLER: Verdienen enormes Geld, aber werfen es zum Fenster hinaus. Was sie tun, lässt sich nicht ‘Arbeit’ nennen.” Zugleich aber stieg eine andere Modalität ästhetischer Erfahrung für die bürgerliche Gesellschaft – vor allem in der Inszenierungsform der Oper – zur einer Alternative traditioneller christlicher Religion auf. Wenn die Bewegungen der Moderne und der Modernisierung vor 1900 dann gegen diese so verschiedenen Typen ästhetischer Autonomie mit einer Tendenz zur Rückbindung an das “Leben” reagierten, so fand diese Reaktion im Willen der Avantgarden zur Gestaltung der Zukunft durch Literatur, Kunst und Musik eine um neue Formen der Praxis bemühte Steigerung und Konkretisierung, die vor allem während der zwanziger Jahre bleibende Spuren hinterließ.
Denn in jener Zeit waren die hochfliegenden Programme der ersten Avantgarde-Impulse ja aufgrund des Bruchs nationaler Euphorien im Weltkrieg bereits durch eine Phase der Ernüchterung gegangen, wenn auch die totalitären Denksysteme und Institutionen den dynamischen Willen zum Experiment noch nicht zum lähmenden Ende gebracht hatten. Ein neuer praktischer Realismus, der sich schon nach 1900 bei vielen jungen Künstlern in der Bereitschaft gezeigt hatte, ihre Werke über gemeinsam organisierte Ausstellungen und vor allem über ästhetisch kpmpetente Kunsthändler auf den Markt eines neuen Publikums zu bringen, fand nun eine Fortsetzung in ihrer zunehmenden Bereitschaft, Institutionen der Lehre als natürliche Brücke zur Gesellschaft zu nutzen. 1925 wurde Max Beckmann eingeladen, eine Meisterklasse an der Städelschule in Frankfurt zu geben; Otto Dix unterrichtete bis 1933 an der Dresdner Akademie, und George Grosz arbeitete nach seiner Auswanderung im selben Jahr als Dozent an der Student Art League in New York. Diese Öffnung der Avantgardisten auf die Gesellschaft war von wachsender Anerkennung durch öffentliche Preise und von der Aufnahme ihrer Werke in die national angesehensten Akademien begleitet.
In diesem kulturellen Klima tat sich vor allem die Industriestadt Mannheim hervor, wo 1925 eine Austellung unter dem vielfache Innovationen und Tendenzen auf einen begrifflichen Nenner bringenden Tiitel von der “Neuen Sachlichkeit” stattfand. Zu ihr gehörte auch eine Zuwendung auf die Themen einer sich in immer mehr Dimensionen enthüllenden neuen Gegenwart, die im Kontrast zum überlieferten Kanon der Kunst standen – und stehen sollten. “Rugbyspieler,” eines der in ihrer Fläche größten Gemälde Beckmanns aus jenen Jahren, konzentierte sich auf den athletischen Moment, wo der Ball von der Gewalt der Angreifer gegen den Widerstand ihrer Gegner über eine Torlinie gewuchtet wird — und mag über die Vergegenwärtigung dieses damals in Beckmanns Wohnort Frankfurt beliebten Sports auch eine allegorisch verkleidete Kritik an einer prinzipiell gewaltbereiten Gesellschaft suggierieren. Auschließlich von überraschter Begeisterung motiviert war hingegen Christian Schads Bild “Operation” aus demselben Jahr, das auf die Einladung eines Chirurgen zurückging, ihn inmitten einer Abendeinladung kurz zu seiner Arbeit an der Klinik zu begleiten: “Ich war fasziniert, notierte Schad, “von der mathematischen Exaktheit, mit der jede Handlung auf eine andere antwortete, von der lebendigen und konzentrierten Aktion, die sich mit der Präzision eines Uhrwerks abwickelte, ohne dass dabei ein Wort gewechselt wurde.”
Drei Jahre vorher hatte Max Ernst die dezidiert säkulare Weltsicht jener Gegenwart auf eine drastisch-kritische Bildformel gebracht in seinem Gemälde “Die Jungfrau verhaut den Menschensohn vor Zeugen: André Breton, Paul Eluard und der Maler” (so der Titel im Katalog der Ausstellung, wo es 1926 erstmals zu sehen war). Die für einen Augenblick witzige Idee brachte dem katholischen Rheinländer Ernst zusammen mit einigen Details – dem Griff der rechten Hand des Menschensohns unter den Rock seiner angeblich unbefleckten Mutter, dem zu Boden gefallenen Heligenschein mit den Initialen des Künstlers, die Dreizahl der Zeugen, welche nach juristischen Kriterien für eine Anzeige ausgereciht hätte – eine Exkommunizierung durch den Erzbischof von Köln ein, worin sich gewiss ein anderer Anspruch auf Sachlichkeit erfüllte.
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Die Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs, jene ideologisch weniger aggressiv konturierte, aber politisch weiter angespannte Epoche des “Kalten Kriegs,” wurde für nicht wenige Avantgarde-Helden zu einer Zeit der freien Entfaltung und der endlich sich einstellenden Anerkennung – und vielleicht lag gerade in solcher Vollendung auch der Eindruck, dass sich ihr Pathos von der Gestaltung und Vorwegnahme der Zukunft nun definitiv überlebt hatte. Max Beckmann, den die Nazis im besetzten Holland trotz einer chronischen Herzerkrankung noch hatten einziehen wollen, um ihn am Ende offiziell “auszumustern,” fand 1947 den Weg in die Vereinigten Staaten, wo er in einem Apartment der gepflegten Upper West Side von New York lebte, an der Washington University in Saint Louis unterrichtete und in prominenten Gallerien ausgestellt wurde, Max Beckmann starb zwei Tage nach Weihnachten 1950 auf einem Spaziergang zum Metropolitan Museum, wo er eines seiner Bilder sehen wollte. George Grosz, der amerikanischer Staatsbürger geworden war und seinen Lebensunterhalt aus privatem Kunstunterricht bestreiten konnte, kehrte im Mai 1959 nach Berlin zurück und stürzte sich zwei Monate später nach einer durchzechten Nacht mit sechsundsechzig Jahren auf einer Treppe zu Tode. Zwei Jahre zuvor war als naturalisierter Holländer, Dozent der Rijksakademie und hochangesehener Designer Heinrich Campendonk gestorben, dessen Glasfenster bis heute als kanonisierte Werke der nationaen Moderne gelten. Christian Schad, der aus finanziellen Gründen seine künstlerische Produktion in den dreißiger Jahren eingestellt hatte und dessen vermeintlich “realistische” Werke die Nationalsozialisten in ihren Kanon “Großer deutschen Kunst” aufgenommen hatten, überlebte den Krieg in der unterfränlischen Provinz von Aschaffenburg, wo er im Auftrag der Stadtverwaltung eine Kopie von Matthias Grünewalds “Stuppacher Madonna” anfertigte und seine Photo-Experimente wieder aufnahm, um von der Kunstwelt vergessen 1982 in Stuttgart zu sterben. Sein Werk hat – gegen den Strich der nationalsozialistischen Anerkennung – in den vergangenen beiden Jahrzehnten neues Interesse gefunden.
Als der große Überlebenskünstler – in allen Bedeutungen dieses Worts – unter den in Deutschlland geborenen Avantgardisten erwies sich Max Ernst. Er war schon 1941 vor der Gestapo aus dem besetzten Frankrein in die Vereinigten Staaten entkommen, wo er von 1942 bis 1946 mit der in Kunstkreisen so einflussreichen Millionenerbin Peggy Guggenheim verheiratet war und dann in Arizona eine Kolonie von lokalen Handwerkern und Künstlern ins Leben rief, in der er die frühen avantgardistischen Ideale von einer neuen ästhetischen Praxis vertwirklicht sah. 1953 jedoch kehrte er nach Frankreich zurück, wurde 1954 mit dem Großen Preis der Biennale von Venedig ausgzeiechnet und starb hochgeehrt 1976 in Paris.
Kein Avantgardist aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert konnte freilich, was das Überleben in Ruhm, Reichtum, Produktivität und sogar innerhalb der jugendlichen politischen Überzeugungen angeht, mit Pablo Picasso mithalten. Für einer Welt, deren weitergeführte Fortschrittserwartung alle Emphase verloren hatte, wurde er zur Ikone einer neuen ästhetischen Gegenwart, indem er unversehends zur romantischen Version des exzentrisch-schöpferischen Individuuums zurückkehrte. Weder an seiner Mitgleidschaft in der Kommunistischen Partei Frankreichs oder an dem ihm 1962 in der Sowjetunion verliehenen Lenin-Friedenspreis noch an der sich in der Öffentlichkeit seines Werks auslebenden Alterserotik nahm seine schwerreiche internationale Kundschaft aus jenen Jahren einer sonst engen bürgerlichen Moral Anstoss. Im Gegenteil – gerade das Motiv von der sexuellen Faszination des präsenilen Manns durch junge Frauen wurde immer obsessiver zum zentralen Motiv seiner Bilder, bis Picasso 1973 auf einem seiner Schlösser in Südfrankreich starb.
Anstehende Steuerschulden konnten posthum aus dem Verkauf von Werken beglichen werden, die der finanziell schon immer gewiefte Picasso ganz bewusst nie auf den Markt gebracht hatte. Bis heute erreichen seine Bilder – als ironische Verewigung des Motivs der Durchdringung von Gesellschaft und Praxis-naher Kunst – stets rekordverdächtige Preise bei Auktionen. Die Qualität der Werke wird von dieser Dimension des Erfolgs keiensfalls beeinträchtigt. Soviel – wenigstens – sollten wir von den Avantgarden der Vergangenheit gelernt haben.