Kairos. Der Richtige Moment

Turn of the century and Modernity

Barbara Vinken

Der Eiffelturm

Vom Turm zu Babel zu Notre Dame de Paris

 

»Paris, mais c’est la Tour Eiffel/ Avec sa pointe qui monte au ciel.«[1]

Nie hätte ich einen Gedanken an den Eiffelturm verschwendet, wenn ich ihn nicht vom Fenster meiner Wohnung über dem Dächermeer schlank in den Himmel ragen sähe. Tags steht er mir bei Wind und Wetter vor Augen, verschwindet er in Nebelschwaden oder Regen, glänzt er in der Sonne. Die Stunden der Nacht kündet er nicht wie die Kirchtürme mit Glocken, sondern mit einem Feuerwerk, das die ville lumière zu jeder vollen Stunde für fünf Minuten flirrend erfasst. Im Himmel von Paris überstrahlt er die hellsten Sterne – bis die letzte Metro fährt. Nachts hütet er meinen Schlaf, und wenn ich aufwache, ragt er verlässlich über der Stadt zu seinen Füßen. Paris ohne Eiffelturm, unvorstellbar. Und doch gäbe es den Eiffelturm um Haares Breite nicht mehr. Aus Anlass der Weltausstellung 1889 und zum 100. Jubiläum der Französischen Revolution errichtet, lief seine Konzession schon 1910 ab. Wie ist aus diesem zur Vorläufigkeit bestimmten Turm 100 Jahre später das mit sieben Millionen jährlich weltweit meistbesuchte Monument geworden: Wahrzeichen der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, Wahrzeichen der Moderne?

Der sagenhafte Turm zu Babel blieb unvollendet – eine Ruine, nie fertiggestellt; „Der große Turmbau zu Babel“ von Brueghel dem Älteren stellt sie vor Augen. Turmbau war – immer schon, mythisch – ein kühnes, verwegenes, technisch hochversiertes, menschengemachtes Unternehmen. Falsch waren seine technischen Ersatzstoffe: nicht Stein, sondern Ziegel, nicht Mörtel, sondern Asphalt. Falsch sein Motiv: sich eigenmächtig ein Denkmal zu setzen, sich im Aufruhr gegen die himmlischen Mächte zu erheben. (Gen 11, 1-9) Frevelhaft, erzählt das Buch Moses, suchten die Menschen in Babylon einen Turm zu bauen, „des’ Spitze bis an den Himmel reiche“ (Moses I, 11). Die Konsequenzen waren flächendeckend, epochal, verheerend.

Zerstreut in alle Länder werden die Babylonier in tragischer Ironie, weil sie einen Turm mit einer in den Himmel reichenden Spitze bauen wollten, der ihnen als vereinigendes Denkmal dienen sollte. Zum Scheitern verurteilt war ihr Projekt, weil der eifersüchtige Gott des Alten Testamentes in der Einheit der Menschen um seine Allmacht fürchtete: nichts wird ihnen, geeint, unmöglich sein. Das zu verhindern, verwirrt er ihre Sprachen und zerstreut er sie in alle Winde.

Babylon und sein Turm stehen für die Juden des Alten Testamentes wie für die römischen Kirchenväter unter keinem guten Stern. Für Augustinus wird Babel zur Kurzformel all dessen, was auf der Welt falsch läuft. Dem Buch Moses (10, 9) folgend, ist es in seiner Genealogie der weltlichen Städte Nimrod, der gewaltige Jäger wider den Herrn, Nachfahre des Brudermörders Kains, der Babel und seinen Turm erbauen lässt. (Civitas Dei XV, 17). Als Bauherren können wir ihn auf Bruegels Turmbau bewundern; turmhoch wie in der Divina Commedia (XXXI) ganz unten in der Hölle überragt dort Nimrod tyrannisch seine Untertanen. Schon bei Moses ist Nimrod der „erste Gewaltherrscher“; das hebräische Nimrod heißt im Deutschen „der Widerstreitende“ oder „der sich Empörende“ und passt zur überlieferten Charakterisierung eines Herrschers, der Autorität, unabhängig vom Walten Gottes, an sich gerissen hat. Der humanistische Staatstheoretiker Jean Bodin (1530–1596) sah Nimrod als den ersten despotischen König der Weltgeschichte an.[2] Der Turmbau zu Babel wird zur Kurzformel für die aus dem tyrannischen Größenwahn der Gottgleichheit geborene Bedrohung des Himmels. Die Stadt trägt das Schicksal, das sie ereilt, bereits im Namen: Babel ist Babbel, heißt Verwirrung, Entzweiung.

Der Turmbau zu Babel ist in der Lektüre des Augustinus Wiederaufnahme und Vollendung des Falls. Am Anfang steht der Hochmut im Begehren, das Eva antreibt, den Apfel zu essen: gottgleich werden zu wollen. In der Geschichte des Turmbaus will dieser Antrieb buchstäblich hoch hinaus, stürmt er den Himmel. Sich zu erheben, dem eigenen Willen zu folgen, sich selbst zum Prinzip und Grund seiner selbst zu machen und zu vergöttern, heißt Fallen. „Du hast sie herabgestürzt, da sie sich erhoben.“ (Ps. 72,18) „Da sie sich erhoben, wurden sie herabgestürzt.“ (Civitas Dei XIV, 13) Aus der sich selbsterhebenden Selbstbegründung folgt die Entzweitheit des Selbst, die Revolte im Selbst gegen das Selbst, des Bruders gegen den Bruder, Entzweiung des Gesellschaftskörpers, Revolte aller gegen alle. Der Turm, der Zeichen, Denkmal der Einheit sein sollte, wird zum Anlass der Zerstreuung. Die Zerstreuung in alle Welt, diaspora, entspricht nur der Vertreibung aus dem Paradies.

Rom, im Hochmut eines den Himmel bedrohenden, hochaufragenden Bauwerks, dieser Selbsterhebung über die ganze Welt, ist seit der christlichen Spätantike als neues Babel verfemt: „Voy quel orgueil, quelle ruine“, stellt Joachim Du Bellay in den Antiquitez de Rome das von der Höhe niedergestürzte Rom den ersten Touristen vor Augen.[3] („Sieh diesen Hochmut, den Verfall – “)[4]. Vom himmelragenden Rom, das in altem, babylonischem Hochmut den Himmel bedrohte, ist wie vom Turm von Babel nichts übriggeblieben: „Toi qui de Rome emerveillé contemples/ L’antique orgueil, qui menassoit les cieux“.[5] („Der überwältigt du von Rom betrachtest/ Den Hochmut, der dem Himmel einst getrotzt“.)[6]

Ungeachtet der Verdammung Babels hat sich die Welt darin gefallen, himmelragende Türme zu bauen. Die Türme, die Europa und Frankreich am nachdrücklichsten geprägt haben, erhoben sich nicht gegen den Himmel, sondern sollten den Himmel auf Erden ankündigen; Türme, nicht im eigenen Namen gebaut, sondern im Namen Unserer Lieben Frau, der Gottesmutter. Zu ihren Füßen scharten sich die  Städte, über denen sie sich schützend erhob. Jahrhunderte ragten die Türme der Kathedralen als die höchsten weit und breit. Sie kündeten nicht von himmelsstürmendem Hochmut, ragten nicht stolz, sondern verkündeten unübersehbar die Verehrung des Höchsten. Nicht massiv stemmten sie sich gegen den Himmel; sie wuchsen schlank wie Bäume, durch unglaubliches technisches Können leicht, in filigranem Maßwerk luftig in die Lüfte. Leicht wurde im gotischen Stil der Kathedralen noch das Schwerste, der Stein, und machte die Kathedralen in Arabesken zu Schmuckstücken: Ausdruck nicht des chaotischen Kampfes der Menschen gegen die Götter, sondern harmonisch schön geordneter Kosmos. In Frankreich, der ältesten Tochter der Kirche, sind fast alle gotischen Kathedralen Notre-Dame gewidmet; unter ihrem Schutz versöhnen sie Himmel und Erde.[7]

Inzwischen lässt der Wettstreit um den höchsten Turm die Europäer eher kalt. Wir finden es nicht mehr interessant, Höhen-Weltrekorde aufzustellen. Das überlassen wir anderen, die glauben, sie hätten es nötig: Angeberei, Kompensation, positivistische Faktenhuberei. Den Größten zu haben, interessiert immer weniger, nicht zuletzt wegen all der Trump Towers, die in den USA mit dem Namen ihre übertrumpfende Natur verraten. Liegt diese Gleichgültigkeit daran, dass wir die Babel-Lektion gelernt haben? Oder haben wir den Turm zu Babel längst gebaut, nur viel besser? Nicht mehr in blindem Hochmut, sondern nach dem Vorbild der Kathedralen als einen Turm, der zu seinen Füßen die Stadt versammelt, als Wahrzeichen von überall sichtbar Einheit herstellt und als Blitzableiter gar vor zürnenden, blitzeschleudernden Gewittern schirmt? Eine Version der Schutzmantel-Madonna, eine Notre Dame der Moderne? Ein Antitypus zum Turm zu Babel? Dieser Turm, der den babylonischen Turm überbietend aufhebt, ist der Eiffelturm.

Der Eiffelturm ist wie alle Türme im Französischen weiblichen Geschlechts – la tour Eiffel. Das Chanson hat seine babylonische Herkunft ausgeplaudert, wenn es Stadt und Turm im Zeichen des Buches Mose mit der Spitze, die in den Himmel steigt, gleichsetzt: „Paris, mais c’est la Tour Eiffel/ Avec sa pointe qui monte au ciel.“ Alles singt davon und spricht dafür, dass der Eiffelturm die Überbietung, Erfüllung und Aufhebung des nie fertig gewordenen Turms zu Babel ist. Ein Turm wie der zu Babel, der aber nicht im Zeichen der Entzweiung, sondern der liebend schützenden Vereinigung steht und stehen geblieben ist. Dieser neue Turm überragt im Stadtraum von Paris die reaktionäre, römisch-byzantinische Kuppel des Sacré Coeur auf Montmartre, gebaut als Sühne für die Gräuel von Revolution und Kommune auf dem Berg des tatsächlich grundlegenden Martyriums des Reichsheiligen Saint Denis. Monumental erhöht, hatte das Sacré Coeur die gotischen Türme von Notre Dame in den Schatten gestellt. Wenn der Eiffelturm stehen geblieben ist, so liegt das an einer Arbeit am Mythos, die dem Stadtraum Bedeutung gibt, am Mythos des Eiffelturms, die sehr früh einsetzte. Der Eiffelturm, für ein halbes Jahrhundert bis zum New Yorker Chrysler-Building 1930 der höchste Turm der Welt und als Wunderwerk der Technik Vorbild für die Wolkenkratzer, die bald überall in den Himmel schießen sollten, wurde vom babylonischen Turm zum marianischen Turm umcodiert.

Als der Eiffelturm mit seiner 322 Meter in den Himmel ragenden Spitze errichtet wurde, lag Babel in der Luft. Die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts verstand sich als ein neues Rom und wurde von ihren Kritikern, den Realisten wie Naturalisten – unisono, ist man versucht zu sagen – als ein neues Babel dargestellt. In Gustave Flauberts Madame Bovary wird das Rouen Louis Philippes als neues Babel bezeichnet; die Éducation zeichnet das Paris von 48, von Revolution und Staatsstreich als ein zweites Babel.[8] Emile Zola gibt das Paris des zweiten Kaiserreiches als neues Babel zu lesen. Das Paris der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das Paris des Hochkapitalismus war Babylon, die dekadente Stadt der tyrannischen Gewaltherrschaft und der Eigensucht, der Korruption und Hurerei geworden, wo alles bedenkenlos den Götzen Geld und Sex geopfert wurde. Und was ursprünglich gegen Babel zeugte, die Kirche und mit ihr ihre sichtbarste Ausprägung, die gotischen Kathedralen, wurden als Inbegriff alles Babylonischen diskreditiert; als käufliche, korrupte, sterile, perverse Institution im vergoldeten Bett mit einer tyrannischen Macht, wahlweise dem zweiten Kaiserreich oder der dritten Republik. Die Türme von Notre Dame waren zu Zeichen einer unheiligen Allianz von Thron und Altar, einer despotischen, korrupten Herrschaft von Kirche und Staat geworden.

Die Dichter errichten neue Kathedralen, die Kathedralen ihres Werkes, Buchstabenkathedralen, gegen die gotischen Kathedralen aus Stein, die sie babylonisch umbesetzten. Hier nur ein paar Anhaltspunkte: Victor Hugos Notre Dame de Paris kehrt verzerrt im Titel von Flauberts Madame Bovary wieder. Aus der Hugoschen Hure, die sich zum Muttersein bekehrt, wird bei Flaubert die Frau, die als Mutter ganz Hure wird. Zola brandmarkt die Kirche als monströse Hure Babylon und den Marienkult als eine moderne Form der Tempelprostitution.[9] Marcel Prousts Bible d’Amiens schließlich dreht John Ruskin im Vorwort zu seiner Übersetzung das Wort im Munde herum: Ruskins Frohe Botschaft, die dieser in der gotischen Kathedrale zu Amiens lebendig vor Augen gestellt sieht, straft Proust Lügen, wenn er eine Ästhetik der Dekadenz dagegenstellt.[10]

Es ist Guy de Maupassant, der die Umcodierung von Kathedralturm zum Turm von Babel am aggressivsten und, wenn dieser pun erlaubt ist, pointiertesten vollzieht. Bel-Ami, der bis heute meist verkaufte französische Roman, erschien 1885 kurz vor dem Erbauen des Eiffelturms. Bis zur Fertigstellung des Kölner Doms im Jahre 1880 war der erst 1877 aufgesetzte, 151,5 Meter hohe, hoch über Rouen ragende, gusseiserne Turm der Kathedrale Notre Dame de l’Assomption der höchste Turm der Welt. Eben dieser Turm bohrt in Bel-Ami, monströs hässlich, maßlos und unterwerfend, seinen steilen Pfeil in den Himmel. Die im Tal der Seine wie Babel an den Ufern des Euphrat lasziv hingebreitete, sich mit tausend Türmen in den Himmel streckende normannische Stadt beschreibt Maupassant auf dem Hintergrund des Babels der Apokalypse und des alttestamentlichen Babels des Turmbaus:

„Puis la ville apparaissait sur la rive droite, un peu noyée dans la brume matinale, avec des éclats de soleil sur ses toits, et ses mille clochers légers, pointus ou trapus, frêles et travaillés comme des bijoux géants, ses tours carrées ou rondes coiffées de couronnes héraldiques, ses beffrois, ses clochetons, tout le people gothique des sommets d’églises que dominait la flèche aiguë de la cathédrale, surprenante aiguille de bronze, laide, étrange et démesurée, la plus haute qui soit au monde.

Mais en face, de l’autre côté du fleuve, s’élevaient […]. Et la plus élevée de toutes, aussi haute que la pyramide de Chéops, le second des sommets dus au travail humain, presque l’égale de la sa fière commère la flèche de la cathédrale, la grande pompe à feu de la Foudre semblait la reine du peuple travailleur et fumant des usines, comme sa voisine était la reine de la foule pointue des monuments sacrés.“[11]

(„Dann erschien, auf dem rechten Ufer, die Stadt selbst, noch ein wenig vom Morgennebel eingehüllt, mit erstem Sonnenglitzern auf den Dächern, und ihre tausend Türme, die einen schlank, die anderen spitz, wieder andere gedrungen, manche schmächtig und bearbeitet wie riesige Juwelen, diese eckigen oder runden wappengeschmückten Türme, die mächtigen und die kleinen Glockentürme, die ganze gotische Heerschar von Kirchen, über die der spitze Turm der Kathedrale hoch aufragte, diese häßliche, sonderbare, alle Maße sprengende große Bronzenadel, die größte auf der Welt, von der der Betrachter überrascht wird.

Auf der anderen Seit des Flusses, […] reckten sich […]. Und der höchste von ihnen allen, der es an Höhe mit der Pyramide von Cheops aufnahm, dem zweithöchsten Werk von Menschenhand, und fast an seinen stolzen Gevatter, den Turm der Kathedrale herankam, die große Feuerpumpe der Foudre, wirkte wie der König der Welt der Arbeiter und der Fabriken, wie sein Nachbar der Herrscher über die Schar der turmbewehrten Gotteshäuser war.“[12])

Industrie und Kirche sind in ihrem überladenen Prunk, ihrer selbstherrlichen Macht vereint in ihrer weibischen, monströs maßlosen, brutal unterwerfenden, hochmütig himmelragenden Tyrannei. Im Okzident triumphiert mit dem Turm von Babel und den Pyramiden Ägyptens der alte Orient. Maupassant schreibt dem Turm von Rouen mit seinem spitzen Pfeil noch das Attribut des großen Jägers Nimrod, des Gründers von Babel zu: es ist, als jagte die Kathedrale ihren Turm wie einen Pfeil in den Himmel.

In Hugos Drama La Fin de Satan hatte eben dieser Nimrod, Jäger wider den Herrn, Jagd auf Gott gemacht und seinen Pfeil in den Himmel geschossen. Der Aufstand der Menschen gegen die Himmel, ihre despotische Unterwerfung unter diese gotteslästerlichen Mächte ist in Rouen, diesem modernen Babel, perfekt.

Nachdem die Türme der Kathedralen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von pfingstlichen zu babylonischen Türmen umcodiert worden waren und aus der jungfräulich mütterlichen Notre Dame die große Hure Babylon geworden war, gab es Platz für einen neuen Turm. Ja, die Welt schrie geradezu danach. Einem Turm, der Babylon überwindet – und der Eiffelturm wurde gebaut. Er stach die Kathedraltürme nicht nur durch seine Höhe aus; er ließ auch den babylonischen Krieg gegen den Himmel hinter sich. In ihm erfüllte und verkehrte Pfingsten Babel nochmals. Das babylonische Sprachgewirr, in der keiner mehr den anderen versteht, wurde zum Wunder einer Stadt, in der alle in der Sprache der Sprachen sprechen, in der sich die schöne Ordnung des Kosmos wie ehedem im Latein, den sacrosanctae vetustatis offenbart.

Auf der Weltausstellung 1889 sollte der Eiffelturm an die große Französische Revolution von 1789 erinnern, an die Geburtsstunde einer Republik geeint in Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die in diesem himmelragenden Wunderwerk französischer Ingenieurskunst ihr hundertjähriges Jubiläum feierte. Auf dem Champ de Mars steht der Turm genau dort, wo die Revolution im Fest des Höchsten Wesens die Säkularreligion der Republik einen ersten Höhepunkt erreichte: Als Wahrzeichen der von Bürgerkriegen erholten, geeinten Nation vereint der schlanke Turm die Stadt, das Land, Himmel und Erde, Kirche und Staat und strahlt in die Welt.

Die Kritik an diesem zu Anfang höchst umstrittenen Bauwerk artikulierte sich in babylonischen Termini: als zu kolossal, zu maßlos, alle anderen Monumente durch seine Riesenhaftigkeit erdrückend, ein Monster der Moderne, deren Dekadenz hier sinnfällig wird. Erschwerend kam hinzu, dass Eiffel, der Erbauer, auch den Panamakanal geplant hatte, Anlass für einen der größten Finanzskandale der an Korruptionsskandalen nicht armen Dritten Republik war. So konnte sein Turm als Inbegriff der Korruption gesehen werden, die die Stadt zu seinen Füßen eisern im Griff hatte. Außerdem holte Eiffel mit dem Eisen, einem im Gegensatz zum Stein als unedel geltenden Materials die Fabrikarbeiter und die gefährlichen Vorstädter, die industrielle Moderne und die gerade erst überwundenen bürgerkriegsartigen Klassenkämpfe ins Herz der Stadt. Eiffel selbst hat eine wahrhaft babylonische Ästhetik, eine Ästhetik des maßlos Riesenhaften, des in Bewunderung Unterwerfenden, des künstlich Menschengemachten gegen die klassische, und natürlich im Kern kosmische klassizistische Norm der Ausgewogenheit und Angemessenheit geführt.

Die von Eiffel artikulierte, babylonische Ästhetik hat den Turm sicher nicht gerettet. Stehen geblieben ist er als neuer, marianischer Turm der Liebe, der Freiheit und der Einheit, ein Turm des Schutzes, kurz, ein wahrer Kathedralturm auf dem neuesten Stand der Technik. Die gründliche Arbeit am Mythos lag darin, den babylonischen Fluch, der tyrannisch himmelsbedrohend und monströs steril über der Stadt lag und die Romane der Zeit als basso continuo grundiert, in ein luftig himmelfahrendes Zeichen verbindender, ja, völkerverbindender fruchtbarer Liebe zu verwandeln. Der moderne Mythos machte den Turm zu etwas, das nicht verstreut und spaltet, sondern eint: Klassen und Geschlechter, Klassizismus und Moderne, Arbeiter und Bourgeois, Natur und Kultur. Er versöhnt die Nation mit sich selbst im Zeichen einer so freien, wie einheitsstiftenden Liebe. Er eint sie allerdings gegen einen barbarischen Feind, der von außen drohte und durchaus etwas Orientalisches, nämlich hunnenhaft Monströses an sich hat: die Deutschen.[13]

So gibt Guillaume Apollinaire dem Turm eine Schutzfunktion, der Paris in eine friedliche arkadische Landschaft verwandelt; er vergleicht ihn mit einer Hirtin, die über die blökende Herde der Brücken der Stadt wacht: „Bergère ô tour Eiffel le troupeau des ponts bêle ce matin.“[14] („Hirte o Eiffelturm die Herde der Brücken blökt diesen Morgen.“[15]) Es war Apollinaire, der den Eiffelturm in der Gestalt eines Buchstabenkalligramms als ein pfingstliches Bollwerk gegen die deutschen Barbaren, als eine Maria im Sieg errichtete. Der Eiffelturm vereinigt die Welt in so geistreichem, wie heilvollem Gruß; er ist die sprachgewaltige Zunge der ganzen Welt. Aus diesem Mund von Paris streckt er als Hercule gaulois den Deutschen die Zunge heraus – oder schießt in witziger Doppeldeutigkeit auf sie: „Salut, monde dont je suis la langue éloquente que sa bouche, o Paris, tire et tirera toujours aux allemands“.[16] („Hallo Welt, deren redegewandte Zunge ich bin, auf dass ihr Mund – oh Paris! – auf die Deutschen schießt und immer schießen wird!“)

Es liegt an den Kriegen gegen Deutschland, dem Erbfeind, dass dieser Turm vom Turm der völkerverständigenden Eloquenz zum Symbol der Liebe wird. Als lichter, leichter, luftiger Liebesturm, als sublimer Marienturm wird er in den Mythos Paris integriert. Global allumfassend ist diese Liebe; verliebt, verstehen die jungen, schönen Amerikanerinnen, warum der Eiffelturm Kurzformel, pars pro toto für Paris ist. Mit ihm kommt man, alle Erdenschwere hinter sich lassend, sicher in den siebten Himmel der Liebeserfüllung.

„Un jour une jeune et belle Américaine
Voulut voir Paris et les bords de la Seine.
Elle visita les monuments, les musées
Les grands magasin, les rues et les cafés,
Mais, voilà qu’un soir, elle rencontra l’amour
Et maintenant quand on lui demande à son tour
Quel est votre avis sur Paris, franchement :
Elle dit en rougissant

Paris, mais c’est la Tour Eiffel
Avec sa pointe qui monte au ciel
La Tour de Pise, la Tour de Nesle,
La Tour de Londres sont bien moins belles.
On est toujours sûr avec elle
De monter jusqu’au septième ciel.
Paris ne serait pas Paris sans elle
Avec sa pointe qui monte au ciel.“

Michel Emer: Paris Tour-Eiffel (1946)

Roland Barthes hat den Eiffelturm zu einer neuen, einer besseren Notre Dame de Paris gemacht, allumfassend in freier, schützender Liebe verbindend. Sie, die Turm, verbindet als „signe absolu“ die Stadt in der Freiheit, ihr Bedeutung zuzuschreiben – einer Freiheit, die auch die dunkelsten Kapitel der Geschichte der Stadt nicht haben nehmen können. Schreibt Barthes 1964, genau zwanzig Jahre nach der Befreiung von Paris: der Eiffelturm, widerständiges Symbol gegen die deutsche Besetzung. Auch hier der Turm eine Maria im Sieg.

Die Turm ist eine Frau, und zwar eine mütterliche Frau, denn sie wacht als Schutzmacht über der Stadt. Alles Monströse, wie es Inbegriff des Babylonischen ist, weist Barthes ausdrücklich zurück. Wie die Gläubigen dicht gedrängt unter dem ausgebreiteten Mantel der Madonna Schutz finden, so die Pariser, geschart zu seinen, oder eben ihren Füßen, beschützt eingehüllt.[17]

Die Merkmale der gotischen Architektur, wie wir sie in Notre Dame de Paris, und mehr noch in der flamboyanten Notre Dame de Rouen ausgeprägt sehen, findet Barthes in der Eisenkonstruktion Eiffels vollendet. Der luftige Turm lastet nicht auf der Erde, schwer und massig wie der monströse Turm zu Babel; leicht strebt er nach oben, empor in den Himmel. Sein Aufragen verdankt sich nicht dem Kolossalen, überdimensional Gigantischen, sondern einem himmelfahrenden Zurücklassen aller Erdenschwere. In bezaubernder Leichtigkeit schwebt er schwerelos nach oben. Er wird eher in den Himmel aufgenommen, vom Himmel angezogen, als dass er den Himmel, bedrohlich gedrungen, erstürmt. Der Eiffelturm wird bei Barthes zum Gegenteil alles massiv monumental Monströsen, alles tyrannisch tödlich dekadent Lastenden, wie es der Turm zu Babel und auch die Pyramiden an sich haben. Dieser aufsteigende Turm geht nicht in die Breite; er ist nichts als eine schlanke, sich aufschwingende Linie, die verbindet – Grund und Gipfel, Himmel und Erde. Um sich schließlich im Himmel zu verlieren. Sie verbindet die Pariser und die Welt im Blick auf sie, und sie verbindet die Stadt im Blick der Zuschauer von ihr herab.

Eben dieses eher Erhebende als stolz Hochragende, dieses gen Himmel gezogen Werden, zeichnet die gotischen Kathedralen aus, die dem Gemeinplatz zufolge als ein in den Himmel wachsender, lichter, schlanker Buchenwald beschrieben werden. Wie in den gotischen Kathedralen wird der schwere Stein, oder hier das Eisen, zur schwerelosen Pflanze, Technik kunstvoll Natur. Das Menschengemachte wird naturalisiert. Eiffel behandelt, folgt man Barthes, das Eisen so wie die gotischen Baumeister den Stein. Das Härteste wird durchbrochen zur zart luftigen Spitze: „la Tour est une dentelle de fer, et ce thème n’est pas sans rappeler l’évidement tourmenté de la pierre dont on a toujours fait la marque du gothique: la Tour relaye encore une fois ici la cathédrale.“[18] („Der Eiffelturm ist ein Spitzengewebe aus Eisen, und dieses Thema erinnert an das mühselige Aussparen des Steines, das man von jeher zu einem Merkmal des Gotischen gemacht hat: auch hier löst der Eiffelturm die Kathedrale ab.“[19]) Luftig überwindet Spitze die Schwerkraft der Materie. Das Durchbrochene, der Stein, das Eisen macht lichtdurchflutet den Himmel sichtbar. Diese Überführung des schweren, niedrigen Eisens in eine verschlungen schwebende Arabeske, diese Verwandlung vom Turm zu Pflanze, ja zur Blume macht ihn zum köstlich kostbaren Schmuck. Die kosmische Ordnung wird durch la tour nicht monströs gesprengt, sondern wunderbar völlig natürlich überhöht. Die Turm, luftig leicht hochragend, erblüht: „On monte en elle comme dans une fleur d’air et de fer: en elle se retrouvent la rectitude des fibres, l’arabesque des pétales, l’élancement serré des bourgeons, l’étalement des feuilles et le mouvement même qui tire vers le haut cette matière compliquée et ordonnée.“[20] („Man steigt in ihm empor wie in einer Blume aus Luft und Eisen. In ihm finden sich die Geradlinigkeit der Fasern, die Arabesken der Blütenblätter, das gedrängte Aufbrechen der Knospen, das Sichausbreiten der Blätter und die Bewegung, die diese ganze komplizierte und geordnete Materie nach oben zieht.“[21])

Diese aufstrebende Eisenluftblume ruft noch einmal das prächtige, üppige, strahlende Erblühen der feingegliederten gotischen Rosenfenster, die Marienblume auf. Der Eiffelturm – eine durchscheinende Luftblume. Keine Blume des Bösen, sondern Rose ohne Dornen, oder, um es mit Maurice Chevalier zu sagen: „Fleur de chez nous, fleur du retour“. Eine Blume, wie sie in Frankreich, in Notre Dame de Paris, in den himmlischen Lichtrosetten erblüht. Und jetzt in den sublimen Arabesken der Tour. Schön und schützend, schwebend himmlisch, von allen geliebt und bewundert. Heimgeholt in einer letzten translatio studii von den barbarischen Goten zum Inbegriff des Französischen, zum Inbegriff einer freien, gleichen, liebenden Moderne geworden: opus francigenum, œuvre française.

 

[1] Michel Emer, „Paris Tour-Eiffel“ (1946), Text und Musik, gesungen von Jacques Elian.
[2] Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat, München 1986, Buch 2,2.
[3] Joachim du Bellay, Les Antiquez de Rome. Die Ruinen Roms, übers. v. Helmut Knufmann, Freiburg 1980, 18.
[4] Joachim du Bellay, 1980, 19.
[5] Joachim du Bellay, 1980, 66.
[6] Joachim du Bellay, 1980, 67.
[7] Vgl. zur Kirche als himmlisches Jerusalem Gegenstadt zu Babylon Friedrich Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, 395. „Einen den Turmbau wieder aufnehmenden Antitypus schuf jedoch erst des Pastors Hermae (gegen 150) Vision vom Bau des Turms der Kirche durch die Engel. Die Vorstellung vom antitypischen Gegenbau zum Turm von Babel im Turm der Kirche aus dem Pfingstgeist hat das 12. Jahrhundert aufgenommen und im Bilde dargestellt. Ob der mittelalterliche Kirchturm von der Vision des Turms der Kirche mitgeprägt sei, bleibt zu fragen. Wäre dies möglich, stünde ein grandioser Antitypus uns vor Augen.
[8] Barbara Vinken, Flaubert. Durchkreuzte Moderne, Frankfurt am Main 2009, 258f.
[9] Barbara Vinken, „Nana: Venus à rebours. Das Paris des II. Empire als Wiederkehr Roms/Babylons“, in: Barbara Vinken (Hg.), Translatio Babylonis. Unsere orientalische Moderne, Paderborn 2015, 201-220, 201f.
[10] Vgl., Rebekka Schnell, „Das Schillern der Figuren: Prousts ‚Venise tout encombrée d´Orient‘“, in: Barbara Vinken (Hg.), Translatio Babylonis. Unsere orientalische Moderne, Paderborn 2015, 243-264.
[11] Guy de Maupassant, Bel-Ami, hrsg. v. Jean-Louis Bory, Paris 1973, 246.
[12] Guy de Maupassant, Bel-Ami, übers. v. Hermann Lindner, München 2001, 226-227.
[13] Für dieses monströs Orientalische der Deutschen siehe etwa Léon Werth zum Pariser Exodus im Juni 1940, 33 jours, Paris 1992.
[14] Guillaume Apollinaire, „Zone“, in: Alcools. Suivis de Calligrammes, Paris 2013, 11.
[15] Guillaume Apollinaire, „Zone“, in: Dichtungen. Zweisprachige Ausgabe, München 1978, 13.
[16] Guillaume Apollinaire, „2e canonnier conducteur”, in: Alcools. Suivis de Calligrammes, Paris 2013, 204.
[17] Roland Barthes, Der Eiffelturm, (mit André Martin), übers. v. Helmut Scheffel, Berlin 1970, 83.
[18] Roland Barthes, La Tour Eiffel, (photographies d’André Martin), coll. „Le génie du lieu“, Paris 1964, 81.
[19] Roland Barthes: Der Eiffelturm, 1970, 82.
[20] Roland Barthes: La Tour Eiffel, 1964, 82.
[21] Roland Barthes: Der Eiffelturm, 1970, 83.