Kairos. Der Richtige Moment
Treasure Rooms
Aleida Assmann
Der größte Teil geht verloren
Wenn wir über das Gedächtnis sprechen wollen, kommen wir nicht ohne Bilder aus. Harald Weinrich hat die Bedeutung des Raumes für die Erinnerung hervorgehoben und dabei zwischen der 2-dimensionalen Tafel und dem 3-dimensionalen Magazin unterschieden. Eine Wachs- oder Schiefertafel ist räumlich begrenzt, aber durch Auswischen des Geschriebenen kann ihre Speicherkapazität immer wieder erneuert werden. Das geduldige Papier, das beschrieben, bedruckt und bewahrt wird, kann dagegen beliebig erweitert und vervielfältigt werden. auf diese Weise entstehen riesige Kollektivspeicher wie Bibliotheken und Archive, die nach Regalkilometern gemessen werden. Ein Magazin ist nicht nur ein dreidimensionaler Raum, sondern auch ein Depot für dreidimensionale Objekte. Magazine braucht man für eine Vorratswirtschaft, wenn man Getränke, Nahrungsmittel oder zum Verkauf bestimmte Produkte vorhalten möchte. In Magazinen lagern aber auch Kulturgüter wie Bilder und Museumsgegenstände, um sie dort dauerhaft zu bewahren. Während der Keller eines Privathauses meist für als Speicher für die Vorratswirtschaft in Anspruch genommen wird, lagern sich auf den Dachböden oft Rückstände des gelebten Lebens im Wechsel der Generationen ab, die meist unsortiert sind und deren Zukunft deshalb unbestimmt ist.
Räumliche Metaphern hat man für das Gedächtnis immer schon bemüht, aber nicht nur, um seine Speicherkapazität zu bestimmen, sondern auch, um seine Funktionsweise und Ordnungsprinzipien zu beschreiben. Ein Beispiel dafür ist Ciceros ‚pigeon-hole’-Methode des Memorierens. In seiner Anleitung, wie man zu einem guten Gedächtnis gelangt, betont er die Notwendigkeit einer räumlichen Anordnung. Nur wer in seinem Gedächtnis erst einmal ein räumliches Raster entworfen und in ihm bestimmte Orte (loci) gekennzeichnet hat, kann dort auch entsprechende Bilder (imagines) hinterlegen und sicher sein, dass er sie zuverlässig wiederfindet. Die Kunst des Erinnerns ist für Cicero nämlich nichts anderes als die Kunst des Wiederfindens. Ein anderes Beispiel für die räumliche Anordnung als Symbol für die Organisation von Denkuniversen ist die Bühne eines Theaters, auf der keine Tragödien oder Komödien gespielt, sondern das Wissen der Welt inszeniert und ausgestellt wird. ‚Erinnerungstheater’. Der Begriff ‚Theater’ verbindet sich dabei nicht mir dramatischen Handlungen, sondern mit Sichtbarmachen und Zur Schau Stellung eines enzyklopädischen Überblicks. Es geht hier nicht mehr darum, das eigene Gedächtnis so effektiv wie möglich mit Informationen zu füllen, sondern darum, die Welt selbst abzubilden und im kleinen Mikrokosmus der Bühne den Aufbau des großen Makrokosmos der Welt zu vergegenwärtigen.
Wenn wir von diesen ausgreifenden Gedächtnisoperationen der frühen Humanisten der Neuzeit zur Frage nach der Beschaffenheit des individuellen menschlichen Gedächtnisses zurückkehren, müssen wir viel bescheidener anfangen. Dann gilt nämlich als erste Regel: im Gedächtnis herrscht Platzmangel. Es gibt ein barockes Sinnbild, das diese Einsicht anschaulich vor Augen führt.[1] Es zeigt ein aufgeschlagenes Buch in einer Wolke, was heutige Betrachter überraschen mag, weil es prophetisch unsere aktuellen elektronischen Speichermodalitäten vorwegnimmt. Von den kostbaren Tropfen des Wissens, die aus dem abgebildeten Buch strömen, findet nur ein winziger Prozentsatz seinen Weg in eine Flasche mit einem engen Hals, die unter dem Buch aufgestellt ist. Die Botschaft des Bildes wird in einer Inschrift zusammengefasst und lautet: ‚Periit Pars Maxima’: Der größte Teil geht verloren.
Das aus Bild und Text komponierte Emblem enthält also nicht nur eine pessimistische Diagnose über die engen Grenzen des menschlichen Gedächtnisses, sondern auch das Versprechen, diese Grenzen zu erweitern, wenn man sich einem systematischen Gedächtnis-Training unterzieht. Divereknüpfte Beischrift mahnt: „Was wir lesen und was wir auswendig lernen, vergessen wir, kaum dass wir den Kopf abgewandt haben“ – und wir müssen hinzufügen: es sei denn, ihr lernt beizeiten, wie ihr eure ‚Gedächtnismuskeln’ stärken könnt.
Das Bild zeigt aber noch etwas anderes. Es macht deutlich, wie nahe Erinnern und Vergessen zusammenliegen. Erinnern ist nicht das Gegenteil von Vergessen, sondern ein Bruchteil des drum herum Vergessenen. Erinnern ist aber auch deshalb eng mit dem Vergessen verknüpft, weil beide zusammen die wechselnden Rahmen und Rhythmen unseres Bewusstseins organisieren. Das, woran wir uns erinnern, muss zeitweilig von der Bildfläche des Bewusstseins verschwinden. Erinnern vollzieht sich immer über zeitliche Intervalle des Nicht-erinnerns oder auch Vergessens hinweg. Deshalb reichen die räumlichen Metaphern nicht aus. Erinnern gewinnt sein Gewicht und seine Bedeutung erst aus der Überwindung eines zeitlichen Abstandes und einer Phase der Abwesenheit: man holt etwas wieder in die Gegenwart zurück oder lässt sich auf etwas ein, was vorübergehend oder längere Zeit nicht Gegenstand der Aufmerksamkeit, des Wissens oder des aktiven Bewusstseins war. Friedrich Georg Jünger hat deshalb zwei Formen des Vergessens unterschieden, eine, die mit Verlust einhergeht, da gibt es nichts mehr zurückzuholen, und eine, die mit Erhaltung einhergeht und somit die Möglichkeit einer Rückholung einschließt. „Das Vergessen, das die Verwahrung des Gedachten und seine Rückkehr ins Denken ermöglicht“, nennt er deshalb das Verwahrensvergessen.[2] Verwahren setzt einen Ort voraus, an dem etwas aufgehoben wird. Um Phänomenen wie Aufschub oder Latenz gerecht zu werden müssen wir die räumlichen Gedächtnismodelle mit den zeitlichen zusammenfügen. Latenz kommt ja von latere, verbergen, verstecken; für etwas, das vorübergehend dem Bewusstsein entzogen ist, muss es einen Ort geben, wo es sich verstecken und überdauern kann.
Das Gedächtnis, in dem sich Erinnern und Vergessen verschränken, arbeitet zwischen den Extremen ‚alles speichern’ und ‚alles löschen’. Dafür eröffnen sich in ihm unterschiedliche Abstufungen und Räume für das, worauf später noch einmal zurückgegriffen werden kann. Das können wir uns bildlich mithilfe eines Geschäftes vorstellen, das aus verschiedenen Räumen besteht. Zur Straße gewandt befinden sich die Schaufenster, die die Käufer mit attraktiven Angeboten und einer ästhetischen Anordnung ihrer Produkte anziehen. Am Schaufenster geht man vorbei, um den Laden zu betreten. Im Verkaufsraum sind die wichtigen Waren gut sortiert und griffbereit präsent. Darüber hinaus gibt es noch einen dritten Raum, und das ist das Magazin, in dem die Ware ohne Ansichtsseite auf Regalen gestapelt ist und darauf wartet, als Nachschub einbezogen zu werden.
Die dreistufige Raumfolge von Schaufenster, Verkaufsraum und Magazin lässt sich sehr gut auf Museen anwenden. Auch hier gibt es ein Schaufenster, das sind die Sonderausstellungen, die einem schnellen Wandel unterliegen. Oft wandern sie von Ort zu Ort, um möglichst viele Zuschauer zu erreichen. Als zeitlich begrenzte Gelegenheit erzielen sie die höchste Aufmerksamkeitsstufe und stärkste Medienresonanz. Dahinter tun sich in Analogie zum Verkaufsraum die regulären Museumsräume mit ihrer Dauerausstellung auf. Hier kann man zuverlässig und langfristig den berühmtesten Werken der Kunstgeschichte immer wieder begegnen. Über Jahrzehnte hinweg präsentieren sich die viel gepriesenen Bilder den Besuchern, die sie über Generationen hinweg aufsuchen. Die Spitzenbilder des westlichen Kunstkanons bringen die Besucher meist schon in ihren Köpfen mit, denn sie haben sie bereits unzählige Male auf Reproduktionen in Büchern und Zeitschriften, auf Kalendern und auf Postkarten gesehen. Sie sind im bürgerlichen Bildungsgedächtnis einverseelt, weshalb der Gang ins Museum nicht nur neue Entdeckungen, sondern vor allem auch Wiederbegegnungen ermöglicht. Mit jeder Wiederbegegnung vertieft sich der Eindruck und reichert sich der Zauber der Bilder an. Bildung und Kunstverständnis bauen sich in diesem erneuerten Austausch mit kanonischen Bilder und klassischen Kunstwerken auf.
Worte wie ‚kanonisch’ und ‚klassisch’ bedeuten, dass sich diese Bilder, die in den Dauerausstellungen der Museen hängen, in einem längeren Suchprozess der Sortierung, Bewertung und Auswahl behaupten konnten. Es ist diese Trennung der Spreu von dem Weizen, die die Notwendigkeit der Depots und Magazine erklärt. Denn was aus Platzmangel und aus Gründen des ästhetischen Urteils nicht in den Schauräumen untergebracht wird, braucht ein anderes Refugium, sofern es nicht gleich aussortiert und damit für die Nachwelt verloren, sondern überhaupt noch den Schutz des Bewahrens genießt. Die Kriterien, die bei dieser Auswahl angelegt wurden, wechseln stark. Aber wenn es Werke erst einmal unter das große Dach des Museums geschafft haben, erweisen sie sich als erstaunlich zeitresistent, denn die Institution des Museums als solche ist konservierend und konservativ. Hineinzukommen ist schwieriger als wieder herauszufallen.
Wie im Laden oder Museum sind auch die Inhalte des Gedächtnisses mehr oder weniger präsent und zugänglich. Weniges wird im Schaufenster ausgewählt und ausgestellt, hier können wir an das Kurzzeitgedächtnis denken. Vieles kann im Inneren des Ladens besichtigt werden. Dem entsprechen Gedächtnisinhalte, die im Netz der Synapsen durch häufigen Wiedergebrauch fest verdrahtet sind. Das gilt für Anekdoten, die durch wiederholtes Erzählen poliert werden, aber auch für klar definierte Wissensgebiete und den Vorrat lebenslangen Lernens. Das Meiste jedoch bleibt entzogen und muss auf bestimmte Gelegenheiten und Stichworte warten, bis es noch einmal zum Vorschein kommen darf. „Unsere Arme und Beine sind voll von Erinnerungen“ hat Marcel Proust, der Erfinder der unwillkürlichen Erinnerungen einmal gesagt. Damit bezog er sich auf das, was nicht wiederholt und auch nicht sprachlich bearbeitet wird, was von den Sinnen in den Körper hineingeschwemmt und dort diffus verteilt ist. Darauf muss man länger warten, bis es sich von selbst einstellt, und auch hier gilt: der größte Teil geht verloren. Der Vorrat des Gedächtnisses zerfällt demnach in ein aktives Ich-Gedächtnis, das durch regelmäßigen Wiedergebrauch gut adressierbar ist, ein passives Mich-Gedächtnis, wo man warten muss und auf Zufälle oder Unterstützung angewiesen ist. Die räumliche Metapher ist dabei eine Anschauungshilfe, der zeigen kann, wie stark Erinnern und Vergessen ineinander übergehen.
Das Laden-Bild mit den gestuften Räumlichkeiten eignet sich auch als Denkmodell für die Institutionen des kulturellen Gedächtnisses. Das kulturelle Gedächtnis ist ja kein Selbstläufer oder Automatismus, sondern besteht aus der Kooperation und dem Nebeneinander vieler Institutionen und Praktiken, für deren Zusammenwirken man sich bisher kaum interessiert hat. Erst mit der Übersetzung altbekannter Begriffe wie ‚Kultur’ oder ‚Gedächtnis’ in neue Paradigmen und Forschungsfelder ist ein Interesse und eine neue Reflexion über diese Fragen entstanden. Die Rolle des Pioniers haben dabei ohne Zweifel die Künste übernommen, die seit den 1980er Jahren immer neue Formen, Performances, Installationen und Perspektiven gefunden haben, um die Operationen des kulturellen Gedächtnisses zu beobachten und sichtbar zu machen. Mit ihrer Hilfe kann sich die Gesellschaft selbst beim Erinnern und Vergessen zuzuschauen. Zu diesen Künstlern gehört der Fotograf Mauro Fiorese, der die Idee hatte, eine Foto-Serie in den Magazinen von Museen zu machen. Die Serie der 15 Fotos ist so etwas wie eine paradoxe Intervention. Sie zieht den Blick von den Ausstellungsräumen ab, die, wie es in Goethes Lynkeus-Gedicht, heißt, „zum Schauen bestellt“ sind, und richtet das Visier auf das, was den Blicken entzogen ist, auf die Nachtseite des Unsichtbaren, des Vorbehaltenen, des Vergessenen.
Die Struktur des Museum ist eine ganz andere als die der Bibliothek oder des Archivs. In diesen beiden Institutionen des kulturellen Gedächtnisses gibt es nämlich keine sichtbare Grenze zwischen dem, was ich das Funktionsgedächtnis, und dem, was ich das Speichergedächtnis einer Gesellschaft nenne. Mit Funktionsgedächtnis meine ich den kleinen Teil dessen, was durch den rigiden Auswahlprozess der Kanonisierung von Künstlern und der Heiligsprechung von Autoren als Klassikern gegangen ist; unter Speichergedächtnis verstehe ich die Künstler und Autoren, die in diesem Selektionsprozess nicht berücksichtigt worden sind, aber es unter ein schützendes Dach geschafft haben, wo sie von Historikern und anderen Spezialisten bearbeitet werden. Was im Speichergedächtnis gelandet ist, kann noch einmal entdeckt, erforscht, und dabei möglicherweise umgewertet und neu gedeutet noch einmal zur Schau gestellt werden. Die Nahtstelle zwischen Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis ist durchlässig; manches sinkt ab, anderes kann wieder aufsteigen. Solange es noch materielle Relikte gibt, ist das Vergessen nicht endgültig; für sie gibt es Rückwege in die Vorratskammern und Schausäle der Kultur.
Diese Differenz zwischen Funktions- und Speichergedächtnis, die die Struktur des Museums mit seiner starken Trennung zwischen sichtbaren Zone der Ausstellungsräume und der unsichtbaren Zone des Magazins bestimmt, findet in Bibliotheken und Archiven keine Entsprechung. Hier leben die Stars des Kanons wie Goethe, Schiller oder Hölderlin in engster Nachbarschaft mit unscheinbaren Autoren, deren Namen wir heute nicht mehr kennen und nennen. Das hat einen einfachen Grund: diese Institutionen sind entweder chronologisch nach Jahreszahlen oder nach dem Alphabet geordnet, meist beides zugleich. Zahlen und Buchstaben sind wertneutrale Sortierungsgehilfen, die nur eines sichern sollen: die schnelle Wiederauffindung eines Buchs oder eines Kastens durch seine eindeutige Adressierbarkeit. Man stelle sich nur einmal vor, in den Museen wären die Künstler nach dem Alphabet geordnet! Hier greifen ganz andere räumliche Anordnungsprinzipien, die Funktions- und Speichergedächtnis nicht nur trennen, sondern auch in ihren unterschiedlichen Gedächtnis-Aufgaben sichtbar machen.
Mauro Fiorese hat Bilder in und von Magazinen gemacht, in denen er wiederum Bilder zeigt, die dort ihre Schauseite verloren haben. Das Objektiv des Fotografen fängt Bruchteile jener Kunst ein, die in den Magazinen Europas gestapelt, verstaut und verhüllt ist. Er zeigt, wie sie in Metallgestellen gestaffelt und gestopft sind wie Mäntel in einer engen Garderobe. Die vielen Motive und Stile, der bunte Reigen der Figuren und die bedeutungsvollen Gesten der dargestellten Persönlichkeiten haben sich in sich selbst zurückgezogen und sind im stummen Nebeneinander erstarrt. Die Kompositionen, die der Fotograf ablichtet, wurden von einem Künstler namens Zufall geschaffen. Nicht nur Schönheit, Kunst überhaupt entsteht erst im Auge des Betrachters, und wo dieser Blick und die dazugehörige Resonanz und Bewertung fehlen, fallen die Werke in eine Art Dornröschenschlaf zurück. Sie sind aus der Zirkulation der Betrachtung und Würdigung, von der die Kunst lebt, vorübergehend ausgeschlossen und im Magazin verschlossen, aber nicht verloren. Sie werden bewahrt für die Möglichkeit einer Wiederentdeckung und Wiederbegegnung. Die Bilder und Statuen, die Fironese in ihrem Abseits besucht und fotografiert hat, ruhen in ihren Metallkäfigen verpackt in Reih und Glied wie im Container eines riesigen Schiffs, das durch die Jahrhunderte navigiert. Sie verbringen ihre Latenzzeit in den Wartesälen der Magazine, wo die Zeit stillsteht oder doch sehr langsam vergeht. Es kann Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern, bis sie die Chance bekommen, in einen Zug in Richtung Gegenwart zu steigen, der es ihnen ermöglicht, noch einmal im Licht der Öffentlichkeit zu erscheinen.
Ob wohl für einen der vielen Maler des 19. Jahrhunderts, die sich auf ihren Selbstporträts selbstbewusst mit Pinsel und Palette dargestellt haben, noch einmal die Trompete der Auferstehung blasen wird? Unter ihnen ist ausnahmsweise auch eine Malerin. Sie heißt Lucia Casalina Torelli, wurde 1677 in Bologna geboren und ist 85 Jahre alt geworden. Im 18. Jahrhundert muss sie eine Berühmtheit gewesen sein. Sie hat heute einen respektablen Wikipedia-Eintrag und ist mit vielen Bildern im Internet vertreten. Eins davon befindet sich in der Hamburger Kunsthalle. Es bezeugt zugleich ihren Ruhm, denn es zeigt das im Uffizien-Magazin verschlossene Selbstporträt der Künstlerin im schwarz-weiß-Format eines Kupferstichs. Vor dem Zeitalter der technischen Reproduktion durch Fotographie waren es diese Kupferstiche, die Kunstwerke vervielfältigten und ihnen ermöglichten, in und außerhalb von Europa zu zirkulieren. Der Kupferstich, der Gipsabguss und später die Fotografie wurden zu wichtigen Medien der kunsthistorischen Betrachtung sowie der Kanonisierung und Popularisierung von Kunst. Walter Benjamin befürchtete eine ‚Ent-auratisierung’ der Kunst, dass im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit: die großartigen einmaligen Werke verkommen zur Massenware und werden verkitscht auf unzähligen Kalenderblättern und Postkarten. Man kann die These aber auch umdrehen: es ist gerade ihre Vervielfältigung, die die Originale auratisiert, weil sie durch Verbreitung und Popularisierung auch ihre Verehrung steigert. Erst durch die konstitutive Trennung von Original und Reproduktion konnte Kunst beginnen zu zirkulieren, ohne selbst auf Reisen gehen zu müssen, und dabei konnte so etwas wie ein bürgerliches Bildgedächtnis entstehen. Im Falle der Malerin Casalina Torelli ist der schlichte Kupferstich das Zeichen einer lebendigen Rezeption unter der Schneedecke des Vergessens.
Es sind Assoziationen wie Wartesaal oder Winterschlaf, die sich beim Betrachten der Fotografien von Mauro Fiorese einstellen. Der Vorgang des Vergessens wird hier auf eindrucksvolle Weise selbst ins Bild gesetzt. Vergessen bedeutet im Magazin aber nicht Verlieren. Im Gegenteil wird hier ja auch das Vergessene unter einen besonderen Schutz gestellt. Diese Bilder und Objekte besitzen einen Pass für einen langfristigen Aufenthalt, und wenn ihnen etwas fehlt, werden sie gut versorgt und liebevoll restauriert. Viele Pfleger und Spezialisten sind in diesem unterirdischen Niemandsland beschäftigt; denn das ‚Verwahrensvergessen’, wie F.G. Jünger es nannte, schließt die aktive Arbeit des Sortierens, Erforschens, Bewahrens und Konservierens mit ein. Manche Magazinräume sehen deshalb aus wie Werkstätten, andere wie Trödel- und Antiquitätengeschäfte, durch deren enge Gänge man sich zwängen muss, und wieder andere wie eine aseptische Leichenhalle oder Friedhöfe der Kultur, wo die Hinterlassenschaften der Vergessenen ruhen. Immerhin sind diese Räume alle gepflegt, sauber, korrekt temperiert und sehr gut ausgeleuchtet.
Fioreses Bilder werden hier zu einem Monitor, auf dem wir in Echtzeit die Struktur des kulturellen Gedächtnisses beobachten und deren Vergessens-Operationen reflektieren können. Dass Gedächtnis in der Lage ist, sich bei laufendem Betrieb selbst zu analysieren, ist ein Gedanke, der bereits auf Augustinus zurückgeht. Er unterschied deshalb zwischen einem partiellen Vergessen, das das eigene Vergessen noch zu registrieren vermag, und einem totalen Vergessen, aus dem nichts mehr zurückgeholt werden kann: „Noch nicht völlig also haben wir vergessen, wovon wir uns wenigstens erinnern, dass wir es vergessen haben. Darum: was wir ganz vergessen hätten, könnten wir auch gar nicht als Verlorenes suchen.“[3]
[1] Arthur Henkel, Albrecht Schöne, Hgg., Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart Metzler 1967, S. 1387.
[2] Friedrich Georg Jünger, Gedächtnis und Erinnerung, Frankfurt a.M. 1957, 16-17. Zum Begriff der ‚Latenz’: Hans-Ulrich Gumbrecht, Florian Klinger, Hgg., Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011.
[3] Augustinus, Bekenntnisse, Zehntes Buch, zweisprachige Ausgabe, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart, Frankfurt a.M. Insel Verlag, 1987, 533.