Kairos. Der Richtige Moment

Renaissance

Rainer Metzger

Kunst und Macht

oder: Über die Entstehung der Frage »Wer macht Kunst?«

 

When will you make an end? – When I’m finished
Filmdialog zwischen Rex Harrison als Papst Julius II. und Charlton Heston als Michelangelo in Carol Reeds »The Agony and the Ecstasy« von 1965

 

Mit diesem Eingangszitat wird dem Englischen zu seinem Recht verholfen, das ansonsten in der Sache der Renaissance eher unterbelichtet bliebe. Doch auf eine Sprache mehr kommt es nicht an. Die „Rinascità“, in der der italienische Kunstliterat Giorgio Vasari die Konjunktur der Künste speziell in seinem 16. Jahrhundert als Wiedergeburt verortete, die der französische Historiker Jules Michelet 1833 für die Geschichte seiner Nation in sein Idiom übertrug, und die Jacob Burckhardt in seiner „Kultur der Renaissance in Italien“ 1860 zurück ins Ursprungsland versetzte, ohne sie zurück zu übersetzen: diese Renaissance, die italienisch spricht, einen französischen Namen trägt und deutsch sozialisiert ist, die lateinisch erzogen wurde und dabei auch noch Brocken des Griechischen, des Arabischen und des Hebräischen eingefangen hat, ist polyglott. Ihr Medium ist die Sprache, und deren Medium wiederum ist der Text. Davon haben nicht zuletzt die Bilder profitiert. Sie sind nun Kunst.

Das Eingangszitat ist historisch verbürgt. „So geschah es, als Michelangelo ihn um Erlaubnis bat, den Johannestag in Florenz feiern zu dürften und ihn dafür um Geld ersuchte. Darauf sagte dieser: ‚Gut, und diese Kapelle, wann wird sie fertig?‘ – ‚Sobald ich dazu komme, Heiliger Vater‘.“[1] Giorgio Vasari erzählt die Geschichte in seiner ausufernden Lebensbeschreibung des Meisters. Die Vita Michelangelos setzt die Haupt- und Staatsaktion im Konvolut der „Vite“, 1550 in erster, 1568 in zweiter Auflage erschienen, seine Biografie ist die bei weitem längste, sie ist die einzige zu Lebzeiten eines Dargestellten verfasste, und sie folgt beflissen einer Fortschrittshypothese, so dass alles Vorhergehende in diesem Künstlertum zur Vollendung zu kommen scheint. Michelangelo gibt die Personalunion nicht nur aller Könnerschaft in Malerei-Skulptur-Architektur, er ist genauso Dichter, Forscher, Spiritualist. Ihm allein gelingt es, die Natur, die alte Lehrmeisterin, zu übertreffen. In Michelangelos „Superatio“ ist die herkömmliche Formel von der Nachahmung, der Imitatio, der Mimesis suspendiert. Kein Wunder, dass der Papst, der ein Dutzend Kardinäle machen konnte, aber keinen zweiten Michelangelo, sich um seine Pretiose besonders bemühte. So geht Vasaris Geschichte also weiter:

„Der Papst, der einen Stock in der Hand hatte, schlug nach Michelangelo mit den Worten: ‚Sobald ich dazu komme, sobald ich dazu komme! Ich werde dich schon dazu bringen, sie fertigzustellen!‘ Als Michelangelo dann nach Hause gegangen war, um die Vorbereitungen für seine Reise nach Florenz zu treffen, schickte der Papst in der Befürchtung, daß er widerspenstig werden könnte und um ihn zu versöhnen sogleich seinen Kämmerer Cursio zu ihm, der den Papst damit entschuldigte, daß dies doch alles nur Gunstbeweise und Liebenswürdigkeiten seien.“[2]

Der Papst entschuldigt sich also beim Künstler, der Auftraggeber beim Auftragnehmer. Umfangen vom Himmel der Sixtinischen Decke, um deren Fertigstellung hier gerungen wird, begegnen sich Florentiner Handwerkermilieu und Frühabsolutismus gewissermaßen auf Augenhöhe. Julius II. wird ihm diese unerhörte Begegnung von Kunst und Macht in einer gemeinsamen Perspektive reichlich vergelten: ökonomisch und vor allem mit der Bestellung eines Grabmals, das Michelangelos Lebensaufgabe und Lebensverdruss wird. Unter den vielerlei Werken, die er unvollendet hinterließ – Vasari prägt dafür den Begriff „non-finito“ –, ist das Juliusgrab das monumentalste: letztlich aus sieben statt aus über vierzig Figuren bestehend, an die Wand geheftet statt frei stehend, in der füglich nebensächlichen Kirche San Pietro in Vincoli statt im eigentlichen San Pietro im Vatikan aufgestellt und mit dreißig Jahren Verspätung inauguriert. Zwischen 1505 und 1542 sind Verträge erhalten und Zahlungen dokumentiert. Bei aller Unbill: Einer der Einschlägigsten aller Künstler war jedenfalls auch einer der Reichsten.

Se non é vero é ben trovato, sagt man in Italien, und wenn die Geschichten, die Vasari erzählt, auch nicht alle ganz stimmen mögen, so sind sie doch gut konstruiert. Geschichte ist sowieso Historie und Narration in einem. Keiner, der diese Gemengelage unbekümmerter ausbreitete als der Verfasser der „Viten“. Das perfekte Instrument zur Darbietung von Ereignis und Erzählung in einem, ist ihm dabei die Anekdote. Vasari hat Kunstgeschichte geschrieben, indem er Kunstgeschichten schrieb. Und die wiederum sind Künstlergeschichten. Vasari hat Lektüre und Legendarik zusammen gebracht, antike Vorbilder eingearbeitet, eigene Recherchen unternommen und Mutmaßungen angestellt zum ewigen Lob seines Brotherrn, Cosimo Medici, und zur höheren Ehre seines Metiers. Künstler war er schließlich selber. Bei aller Plauderei hat er dabei nicht weniger als eine Terminologie geprägt. 

Vasari konnte sich dabei aus eineinhalb Jahrhunderten bedienen, die sich an der Verbalisierung bereits abgearbeitet hatten. Immer schon waren Texte den Bildern vorgängig gewesen, hatten Sujets, Motive, Themen geliefert, die alten Wahrheiten aus Historie, Mythologie, Religion; die Bilder lieferten dazu nichts anderes als die Illustrationen. Doch nach 1400 ändert sich das Reiz-Reaktions-Schema. Die Bilder werden selber Thema. Es wird über sie räsoniert, debattiert, diskutiert. Nicht, was auf ihnen drauf, sondern was in ihnen drin ist, macht sich geltend. So ergibt sich eine eigene Meistererzählung, wie die Texte, die sich um Leben und Werk von Malern, Bildhauern, Architekten ranken, immer differenzierter werden, in ihrer Begrifflichkeit präziser und zugleich offener für die unhintergehbare Unterschiedlichkeit von Literarischem und Bildnerischem. Das bildnerische Milieu wird von Reflexion erfasst, und schließlich haben sich die Produkte so fundamental geändert wie ihre Produzenten. Ob dabei der Fluss für das Tal verantwortlich ist oder das Tal für den Fluss, ist nicht zu entscheiden. Das Terrain jedenfalls ist von einer Art des Austauschs besetzt, die man heutzutage „Diskurs“ nennen würde. Die Renaissance markiert das Zeitalter der Theorie. An ihrem Ende darf sich Meister Michelangelo dann als göttlich, „divino“, hagiographieren lassen. Und was er betreibt, ist Kunst, „arte“, jene seltsam unbestimmte Qualität im Singular, die gerade in dieser Unspezifik auf Betriebstemperatur kommt.

„Schri Kunst schri und klag dich ser din begert jecz niemen mer“: Diese mysteriöse Beschwerde lässt sich, zusammen mit der Jahreszahl 1432 und dem Autorennamen Lucas Moser, auf einer Rahmung lesen, die einen Altar im baden-württembergischen Tiefenbronn einfasst. „Kunst“ steht einfach so da, die Verwendung des Wortes mutet modern an, und ganz ist nicht schlau zu werden aus diesem Stück Deutschsprachigkeit. Jedenfalls hat sich da einer, und es gibt keinen Grund, es dem Maler als Urheber in Abrede zu stellen, ein Problem von der Seele geschrieben, zur Bekräftigung folgt noch ein „o so we“ in der Zeile. Lucas Moser spielt durchaus geschickt auf der Klaviatur der Künstlerklage. Aufbegehren, jammern, unzufrieden sein wird fortan einen gehörigen Beitrag leisten zur Ausbildung jener Individualität, die aus dem Handwerker einen Künstler macht, aus dem anonym Ausführenden eine respektable Größe – aus dem Außendienstmitarbeiter eine Ich-AG. In der Renaissance wird eine neue Dimension an menschlicher Artikulationsfähigkeit greifbar: Man entdeckt, man erfindet die Aufrichtigkeit. In die Arbeit fließt ein, dass es einen Arbeitenden gibt, der sich nicht nur ohnedies in Metier und Medium geltend macht, sondern der sich darin auch geltend machen will. Mit heutigen Worten: Zur bildnerischen Kompetenz kommt ein Element bildnerischer Performanz. Diese Greifbarkeit von Eigenart ist noch nicht durchmischt mit den Elixieren heutiger Wertschätzung, mit Expressivität, Authentizität, Verkörperung. Aber es gibt Momente, in denen das Individuelle den Tigersprung ins Idiosynkratische absolviert. Ein Zirkelschluss entsteht, für den Martin Luthers ominöser Spruch vor dem Wormser Reichstag 1521 „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders“ die einschlägig gültige Formel liefert.

Der Virtuose auf diesem Gebiet ist Albrecht Dürer. Er hat mit seinem Vorzeigestück von 1500 das kanonische Selbst-Bildnis schlechthin ins Werk gesetzt, er hat sich zeichnerisch in den frühesten Selbst-Akt gefügt, er hat mit einem ungeheuer eindrücklichen, die Vision eines Atompilzes am Horizont vorwegnehmenden Aquarell von 1525 eine Art von Traumarbeit durchexerziert. Und er hat, im Sinn der neuen Komplizenschaft von Bild und Bildung, vielerlei Schriftliches formuliert: Als Hinterlassenschaften dessen, was ein anderes Zeitalter „Genie“ nennen wird, sind Briefe überkommen, eine Familienchronik, ein Tagebuch und diverse Lehrbücher zur Weitergabe eines Wissens, das sich als wissenschaftlich verstehen darf. Epochentypisch sind die Übergänge vom Gelehrten zum Gequälten sehr fließend. Notorisch ist Dürers Klage über seine ökonomische Situation. Nicht, dass er schlecht verdiente. Aber Dürer der Unternehmer kann sich Dürer den Maler nicht leisten, weil dadurch Dürer der Graphiker zu kurz kommt. Mit der Massenware der Holzschnitte und Kupferstiche käme das Geld herein, das ihm versagt ist, weil er sich in Aufträge für Altäre verzettelt. Legendär das Lamento, das er während seines Venedig-Aufenthalts 1506 in einem Brief an den Nürnberger Patron Willibald Pirckheimer anstimmt: Ich hab mir selbst ein grau Hoor gefunden. Das ist mir vor lauter Armüt gewachsen und daß ich mich also stenter [ärgere, R.M.]. Ich mein, ich sei dorzu geborn, daß ich übel Zeit soll haben“.[3]

Dürer ist der kompletteste Künstler um 1500. Er vermisst das Areal der Renaissance, und es erstreckt sich selbstverständlich ins Gebiet nördlich der Alpen. Dürer ist beispielgebend geworden durch seine Reise nach Italien – wie er genauso in die Niederlande gegangen ist. Dürer hat als erster die Möglichkeiten der Massenkommunikation, wie sie sich durch die Druckerpresse ergaben ausgeschöpft, technisch, geschäftlich, im Markieren eines Zeniths, wie er bis heute gültig ist. Dürer hat gewusst, was ein Label ist, kaum eines seiner Hauptstücke, das nicht sein Konterfei aufwiese, bisweilen pikant platziert zwischen die Porträts des Kaisers und der Jungfrau Maria. Längst zum Weltstar geworden fuhr er 1521 in die Weltstadt Antwerpen. Mit der Statthalterin gab er sich dort ein Stelldichein, der Habsburgerin Margarete, der Tante des Kaisers, und er zeigte ihr das Bildnis, das er von ihrem Vater Maximilian einst geschaffen hatte. Er wollte es ihr gar schenken, doch dann kam die Abfuhr: „Do sie ein solchen Mißfall darinnen hätt, do führet ich in wieder weg“, schreibt er ins Tagebuch.[4] Offenbar hatte Margarete, der er wenige Tage später die Bestätigung der kaiserlichen Apanage, die er seit einigen Jahren bezog, zu verdanken hat, mit ihrer Begeisterung an sich gehalten. Dürer war beleidigt – und steckte sein Präsent wieder ein. Eine solche Brüskierung hätte sich nicht einmal Michelangelo erlaubt.

Was in Dürer zu perfekter Kenntlichkeit kommt, ist Emanzipation. Er hat sich zum Künstler emanzipiert, und das bedeutet jetzt eine Fülle an Zuständigkeiten. Er ist der Pictor Doctus, der gelehrte Maler, dessen Kompendium an Können schriftlich fixiert ist, das sich fokussiert auf die Texte der Gewährsleute, und das sind jetzt obligatorischer Weise die antiken. Er ist der gesellschaftliche Aufsteiger, der Kontakte pflegt in die Hocharistokratie, der ihre Protektion genießt oder jedenfalls für sie tätig ist, zum Beispiel als Hofkünstler, wo er auf alle Fragen des guten Geschmacks exquisite, delikate, raffinierte Antworten parat hat. Er ist der Selbstdarsteller, der sich gerne schwierig, verschroben, eigensinnig gibt und nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum durchprobiert, was man später Künstlerrollen nennen wird. Darüber hinaus – und anders als in unserer Gegenwart, die sich auch davon emanzipiert hat, bleibt es in der Renaissance das Nonplusultra – demonstriert er Meisterschaft, und Virtuosität. Das pure Können bleibt das Komplement zu jeder Kommentierung. Kein Diskurs in dieser Zeit, der nicht um die eine Evidenz kreiste: technische Brillanz.

Doch auch diese Brillanz steckt in der Fassung von Texten. Um 1490 bringt einer der Großmeister der früheren Renaissance, der Florentiner Sandro Botticelli, ein Thema auf die Leinwand, das man als „Die Verleumdung des Apelles“ kennt. Es erinnert an den legendären Hofmaler des Welteroberers Alexander, und der Genitiv, in den sich Apelles hier einpasst, funktioniert doppelt. Zum einen geht es um eine üble Nachrede, die der Meister zu gewärtigen hatte – angeblich hätte er an einer Verschwörung teilgenommen –, in deren Konsequenz er vor Gericht gezerrt wurde: Einmal mehr findet hier ein Künstler Grund, über die Schlechtigkeit der Welt zu klagen. Zum anderen geht es um ein Bild, mit dem Apelles auf die Verleumdung reagierte. Dieses Bild wiederum wird in einem antiken Stück Literatur beschrieben, Lukian heißt der Verfasser, und nach dem Titel von dessen Buch bringt man derlei Beschreibungen auf den Begriff „Ekphrasis“. Das Gemälde selbst ist nicht erhalten, wie keineswegs sicher ist, dass es jemals außerhalb eines literarischen Zusammenhangs existierte. Botticelli nimmt sich jedenfalls die Beschreibung, die tut als folge sie einer Malerei, vor, um sie wiederum in Malerei umzusetzen. Das Bild zum Text zum Bild: Man muss feststellen, dass derlei hybrides Fortdenken und Fortführen zum guten Ton in der Renaissance gehörte. Die Sache wird dadurch nicht übersichtlicher, dass Botticelli den Hinweis auf Lukian von einem weiteren Stück Geschriebenem bezog, vom immerhin bedeutendsten Traktat zur Ästhetik der Frührenaissance, Leone Battista Albertis „Della Pittura“, 1435 auf Lateinisch, 1436 auf Italienisch herausgebracht. Ein sagenhaftes Gemälde des Apelles aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert, in die Ekphrase transferiert im 2. nachchristlichen Jahrhundert, wieder in den Fokus gerückt in den 1430ern und nunmehr in Malerei umgesetzt um 1490: Wer meint, Renaissance bedeute in diesem Sinn eben die Wiedergeburt der Antike, ist ein schrecklicher Vereinfacher.

Kein Wunder, dass als Ergebnis eines solch unablässigen Umschichtens von Verhältnissen und Bezügen, eines derart peniblen Arrangements von Annäherungen, Aneignungen, Anspielungen der Künstler zur epochalen Gestalt wird: der Künstler als komplette, als komplexe Figur. Ein Zauberwort wäre hier noch nachzureichen, vielleicht der Schlüsselbegriff überhaupt für die Gemengelage, in der sich die Künstlerschaften gegenseitig und miteinander in die Unverwechselbarkeit manövrierten: Paragone. Gemeint ist das Wechselspiel der Konkurrenzen und Rivalitäten, das die Identitäten erst hervorbrachte. Rivalität ist zum einen das gegenseitige Beobachten der Kollegen in der Vorführung dessen, was sie können; das Buhlen um Aufträge und Erringen von Lebenschancen. Paragone ist auch, sozusagen verfeinert, der Gegensatz der Gattungen, die Priorität von Malerei gegenüber der Bildhauerei oder von beiden gegenüber dem Literarischen. Paragone ist schließlich der Streit der Alten mit den Modernen, der Antike mit den Zeitgenossen. Wer sich im Paragone in allen von dessen Dimensionen behauptet, schreibt, was seither seine Kodifizierung erfahren hat: Kunstgeschichte. In diesem Sinn lautet der erste Satz in Ernst H. Gombrichs weltbekannter kunsthistorischer Gesamtdarstellung, seinem in bester Hommage an Vasari als „The Story of Art“ – und nicht „History“ – betitelten Bestseller, dem meinst verkauften Werk der Disziplin: „Genau genommen gibt es ‚die Kunst‘ gar nicht. Es gibt nur Künstler.“[5] Die wiederum gibt es, so darf man hinzufügen, seit der Renaissance. Und wie!

„Wie man gesehen hat, wollten die ehrwürdigen Päpste Julius II., Leo X., Clemens VII., Paul III. und Julius II. sowie Paul IV. und Pius IV. ihn stets in ihrer Nähe wissen, was bekanntermaßen auch für den türkischen Sultan Soliman, den französischen König Franz von Valois, Kaiser Karl V., die Signoria von Venedig und schließlich für Herzog Cosimo de‘ Medici galt; sie alle boten ihm ansehnliche Gehälter, aus keinem anderen Grund als um sich sein großes Talent zunutze zu machen.“[6]

Vasari lässt sich auf der Zunge zergehen, wer nicht alles buhlte um Michelangelo. Die Könige wären nur allzu gern Kunden geworden bei ihm, doch in seiner Unnahbarkeit, seiner unwirschen Art und seiner perfekten A-Sozialität ließ er sie gern einmal abblitzen. Müßig anzumerken, dass Vasari aus Michelangelos Eigensinn wiederum eine ästhetische Qualität macht. Er nennt sie „terribilità“, Ungeheuerlichkeit, in der sich das Erhaben-Sublime mancher seiner Arbeiten und das Furchterregende seines Charakters als eine Art physiognomische Überdeterminierung darstellen. Die angestammten Impulsgeber der Bilderproduktion, all die Autoritäten, die sich politisch, religiös, lebenspraktisch mit Ewigkeit ausstatten wollen, die Kleriker, Potentaten, Aristokraten in ihren diversen Hierarchien, sehen sich angesichts solcher Überfülle an individueller Geltung ins zweite Glied gerückt. Natürlich dürfen sie weiterhin, mehr denn je zahlen. Doch haben sie etwas zu bestimmen? Wer macht nun Kunst in der Renaissance, seit der Renaissance? 

Auf eine für all die Komplexierungen der Epoche typische, schier ironische Art bleiben die alten Autoritäten im Spiel. Sie mischen mit in einem Spiel, dessen Regeln neu festgelegt sind. Sie platzieren sich auf dem Areal des Paragone. Wie Rivalitäten und Eifersüchteleien von ihnen arrangiert, angefeuert, hochgejubelt werden, liefert eine der spannendsten Anthologien zur Künstlergeschichte. Schier genüsslich setzen sie sich wieder fest in den Künstlerseelen, aus denen all die soeben ausgelotete Diffizilität sie vertrieben zu haben schien. Als Teilhaber am Paragone tragen sie dabei unvermeidlich zu jener Ausdifferenzierung in den Künsten – und nicht nur in ihnen – bei, durch die sie in langsamer aber unablässiger Bewegung schließlich endgültig in die Randlage geraten.

In der Renaissance befinden sich die Verhältnisse noch in prekärer Balance. Und so kann Kardinal Giulio de’Medici, der Cousin des amtierenden Papstes Leo X. und später als Clemens VII. seinerseits Pontifex Maximus, im Jahr 1516 einen speziellen Auftrag erteilen: an Raffael, den Artisten aus Urbino, der es zum vatikanischen Chefausstatter gebracht hatte und als Paradefigur der Hochrenaissance in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Giulios Titularkirche im südfranzösischen Narbonne sollte ein Altarblatt erhalten, gut vier mal zweieinhalb Meter messend, ein Stück großartiger Repräsentation für einen Kirchenfürsten, der nie in seiner Kathedrale war. Michelangelo, der sich bis dahin in Florenz aufgehalten hatte, reist wie zufällig nach Rom, und bringt Giulio auf die naheliegende Idee zu einer Künstlerkonkurrenz: Er würde seinerseits ein Bild für Narbonne verfertigen, in gleicher Größe und noch gesteigertem Virtuosentum. Michelangelo, der Zerrissene, der nicht wusste, wo ihm der Kopf stand vor lauter Monumenten des Non-Finito, stürzte sich, als wäre er Tagelöhner, in seine Arbeit. Das Terrain für einen perfekten Paragone war bereitet. Raffael, cool, sophisticated, Everybody’s Darling, der traumhafte Vertreter jener höfisch nonchalanten Mentalität, die auf den ebenso wunder- wie unübersetzbaren Begriff „Sprezzatura“ gebracht worden war, ließ Michelangelo zunächst einfach machen. Und der legte los als gäbe es kein Morgen.

Er legte los, indem er kalkulierte. Die kursierende Ästhetik hatte verfügt, dass die Florentiner Domäne in der Kunst bei der Linie läge, im Zeichnerischen, in der Komposition, im, mit dem einschlägigen Begriff, „Disegno“. Woran es ein wenig haperte, sei die Farbe, „Colore“, deren Spezialisten wiederum die Venezianer wären. Ob richtig oder nicht, Michelangelo nahm sich diese Zuteilung zu Herzen. Sehr schlaubergerisch zog er einen Vertreter der venezianischen Malschule heran, Sebastiano del Piombo, der mit Farbe versetzen sollte, was er, der Meister des Entwerfens allein linear fixiert hatte. Das Ergebnis heißt „Erweckung des Lazarus“, gereicht weder dem einen noch dem anderen Künstler zur Ehre und ist die Summe der jeweils schlechten Eigenschaften beider. Heute ist es in Londons National Gallery zu besichtigen, umgeben von diversen Unfertigkeiten Michelangelos und wie zum Hohn gerahmt von Klassikern Raffaels.

Der nun auf den Plan trat und seine legendäre „Verklärung Christi“, die „Transfiguration“, entwarf. Michelangelesker als jedes von dessen Gemälde ist es die Intitialzündung für jene Übersteigerung ins Gespreizte, Groteske, Hochartifizielle, für die der Epochenbegriff Manierismus steht. Raffael hat mit seinem späten Hauptwerk – dessen Reputation es zweifellos zusätzlich zugute kam, dass der Meister kurz nach der Vollendung gerade 37jährig verstarb – nicht weniger als einen Stil auf den Weg gebracht. Natürlich hat Raffael den Paragone himmelhoch gewonnen. Und mit ihm der Auftraggeber: Nicht nur dass Giulio eine Arena abstecken konnte, ein Kampffeld, das ihm wie von selber zufiel durch Michelangelos idiosynkratischen Ehrgeiz. Nicht nur, dass er den Schiedsrichter spielen konnte und schon vorab dezidierte, was ihm der Kanon nur noch bestätigen konnte: Raffaels „Transfiguration“ ist heute in der Vatikanischen Pinakothek zu bewundern, der Auftraggeber hatte es nicht übers Herz gebracht, sich von seinem Meisterwerk zu trennen, er schickte eine Kopie nach Narbonne und behielt das Original bei sich – Michelangelos gutes Stück hingegen ging umstandslos nach Frankreich.

Giulio de’Medici ist in die Geschichte eingegangen: Als derjenige Papst, der den Sacco di Roma erdulden musste, die Plünderung Roms im Jahr 1527, die er erbärmlich kleinlaut im Versteck der Engelsburg über sich ergehen ließ. Giulio ist aber auch in die Geschichte eingegangen, weil er in die Kunstgeschichte eingegangen ist: Als derjenige Auftraggber, um den sich einer der delikatesten Künstlerwettbewerbe überhaupt rankt. Keine Frage, welcher Eintrag in die Weltchronik der attraktivere ist. Geschichte schreiben bekanntlich die Sieger. Seit der Renaissance haben diese Sieger bevorzugt einen Namen: Künstler.

 

[1] Giorgio Vasari, Das Leben des Michelangelo, übersetzt von Victoria Lorini, Berlin 2009, S. 92
[2] Vasari, ebenda
[3] Albrecht Dürer, Schriften und Briefe, Leipzig, 6. Aufl. 1993, S. 82
[4] Dürer, op.cit., S. 59
[5] Ernst H. Gombrich, Die Geschichte der Kunst, Deutschsprachige 16. Auflage Berlin 2016, S. 21
[6] Vasari, op.cit., S. 195