Wolfgang Beltracchi, 2018
Erwartung I
Erwartung II
Handschrift: Edvard Munch, 1906/1927, Weimar/Rom
Öl auf Leinwand, 120,5 x 140,5 cm

»Friedrich Nietzsche hatte sich viel vorgenommen: Er wollte endlich die ideale wissenschaftliche Schülerin finden und vielleicht die Frau fürs Leben kennenlernen. Dementsprechend anspruchsvoll näherte er sich Lou von Salomé mit der Frage, „von welchen Sternen“ sie „einander zugefallen“ seien. Doch die ebenso nüchterne wie hochintelligente russische Adelige war nicht leicht zu beeindrucken. Binnen kurzem wurde aus der ersehnten Begegnung eine schreckliche Vergegnung, die Nietzsche an den Rand des Selbstmords brachte. Beltracchis Gemälde in Munchs Handschrift lassen Abgründe menschlicher Verzweiflung aufscheinen und verdeutlichen, wie selbstverständlich Besitzansprüche und glühende Eifersucht einst waren. Der Titel rät dazu, die eigenen Erwartungen nicht zu hoch zu stecken – ein zeitloser Ratschlag, der in einer Welt exzessiver Selbstbespie-gelung ausgesprochen aktuell ist.«

Professor Ulrich Sieg, Philipps-Universität Marburg

Nietzsche begegnete Lou von Salomé 1882 im Petersdom. Über ihre Verbindung zu Nietzsche, Rilke und Freud hinaus war von Salomé eine erfolgreiche Schriftstellerin und eigenständige Denkerin. Sie entwickelte, in der großen ästhetischen Sinnsuche der Jahrhundertwende eine neue Lebensform. „Er-wartung“ ist ein schillernder Begriff, persönlich, politisch, historisch. Munch hielt sich 1927 in Rom auf, bereits 1906 hatte er ein Porträt Nietzsches nach fotografischer Vorlage gefertigt. Sein Vorgehen, Moti-ve häufig in Serien zu variieren, wird von Beltracchi aufgegriffen und unterstreicht die Vieldeutigkeit, die der Begriff der Erwartung zur Jahrhundertwende besaß. Viele wurden enttäuscht. Die Pietà im Hinter-grund spielt auf das Geschlechterverhältnis an und betont die Beständigkeit der Kunst.