Kairos. Der Richtige Moment

Aufklärung und Rokoko

Daniel Kehlmann

Aufklärung: ein Zeitalter, eine Geisteshaltung

 

Vor ein paar Jahren erzählte mir ein befreundeter englischer Schriftsteller eine Geschichte aus Indien. Ich weiß nicht, ob sie wahr ist, oder ob er sie aus einer Laune heraus erfunden hat, darauf kommt es auch nicht an. Es kommt auch nicht auf die Geschichte selbst an, sondern darauf, wie er sie erzählte. Ein berühmter Guru, sagte er, habe irgendwo im weiten Indien behauptet, er habe solche Kräfte der Konzentration entwickelt, daß er einen Menschen allein durch Gedanken töten könne. Diese Behauptung habe die Runde gemacht und sei an vielen Orten abgedruckt worden, bis sich der Vorstand einer indischen Freidenkervereinigung, denn auch so etwas gebe es in Indien, wo es ja fast alles gebe, zu Wort gemeldet und den Guru herausgefordert habe: Dann solle er ihn also bitte töten. Er stelle sich zur Verfügung!
Mein Freund verschränkte die Arme und sah mich amüsiert an. Und natürlich habe sich, erzählte er weiter, auch ein Fernsehsender gefunden, der diese Konfrontation habe live übertragen wollen. Die beiden seien ins Studio gekommen – der Guru und der Freidenker, sie hätten einander gegenüber Platz genommen, und der Guru habe sich konzentriert. Es habe aber nicht funktioniert. Der Freidenker sei nicht gestorben, sondern sei vielmehr triumphierend wieder abgefahren, aber der Guru habe erklärt, er habe sich offenbar doch nicht genügend vorbereitet und habe um ein Rematch gebeten, das ihm der Freidenkervorstand auch umgehend zugesagt habe.
Mein Freund lachte. Diesmal habe der Guru die Sache ernst genommen. Er habe sich wirklich vorbereitet, Tag um Tag, Nacht um Nacht. Er habe gefastet, habe meditiert, habe sich sexueller Betätigung enthalten. Innerlich und äußerlich gereinigt habe er sich, habe Kräfte gesammelt wie ein Sportler vor dem Wettkampf.
„Und dann trafen sie sich zum zweiten Mal. Und der Guru konzentrierte sich und sammelte alle Kräfte, vor den Kameras, und konzentrierte sich und konzentrierte sich …“
Mein Freund verstummte. Nachdenklich und fröhlich blickte er in die Luft. Ich wartete. Aber er sprach nicht weiter.
„Ja und?“
Mein Freund sah mich mit gerunzelter Stirn an.
„Was ist passiert?“ fragte ich. „Wie ging es weiter?“
Er musterte mich mit einem Ausdruck grenzenlosen Erstaunens. Dann schüttelte er mißbilligend und spöttisch den Kopf.
Hier endet die Geschichte. Wie gesagt, sie handelt nicht von dem Guru und dem Freidenker, sondern sie handelt davon, was Aufklärung ist. Denn als ich meinem klugen Freund ins Gesicht sah, traf mich die Erkenntnis wie ein Blitzschlag: Was für eine lächerliche Frage hatte ich da gestellt!
Natürlich war nichts passiert, natürlich war der Guru wieder unverrichteter Dinge abgefahren – für einen klaren und orientierten Kopf war das so selbstverständlich, daß es nicht eigens erzählt werden mußte. Ich hatte mich bisher auch für einen aufgeklärten Menschen gehalten, auch für einen Anhänger der Wissenschaft und der Vernunft, und doch: Dieser Moment, das erstaunte Auflachen meines Freundes, und auch die schöne Offenheit der Geschichte von den zwei Männern aus Indien, die eben keines Abschlusses bedurfte, bedeutete für mich einen Augenblick echten Lernens.

Das ist Aufklärung. Eine historische Epoche, natürlich, aber vor allem auch aus dieser Epoche geboren eine Geisteshaltung, und zwar eine, die es nicht immer gab, und die es vielleicht nicht immer geben wird – eine Haltung der Skepsis, die heiter macht, die dem Menschen Fröhlichkeit schenkt und die ihm vor allem seine Ängste nimmt.
Natürlich könnte es der nichtaufgeklärte Mensch sein, der ohne Angst durchs Leben geht – wenn er sich sicher ist in seiner religiösen Weltanschauung, könnte jeder seiner Momente geprägt sein von tiefem Gottvertrauen. Aber die Erfahrung lehrt, das ist nur in sehr wenigen Fällen so. Dass es keine Dämonen gibt, dass Verwünschungen nicht helfen, dass nicht ständig der Teufel auf unsere kleinsten Fehler lauert, um uns in die Hölle zu ziehen, diese Gewißheiten hat uns die Aufklärung geschenkt. Sie hat uns auch das Wissen um die Unausweichlichkeit des Todes gebracht: kein Engel wird uns retten, kein gnädiger Heiliger uns in den Himmel ziehen, wo Glocken läuten und selige Heerscharen singen. Doch merkwürdigerweise scheint das ein geringes Übel im Vergleich mit der ständigen Angst, die das Leben für die Menschen bedeutete, die keine Aufklärung kannten.
„Die Angst“ überschreibt Jürgen Kuczynski eines der Hauptkapitel in seinem Standardwerk „Geschichte des Alltags des deutschen Volkes“, Band 1, 1600-1650, und er führt aus: „Stets hatte der Mensch Angst vor der Natur gehabt, und im Laufe der Zeit war diese Angst sogar vielleicht gewachsen, in jedem Fall war sie spezifischer geworden und hatte zur Ausbildung eines außerordentlichen Systems des Aberglaubens geführt, dessen Höhepunkt wahrscheinlich in unserer hier betrachteten Zeit erreicht wurde.“ Der Aberglauben war also nicht ein Geschöpf des sogenannten „finsteren Mittelalters“, er war, wie die Hexenverfolgungen eines der frühen Neuzeit und der Verwirrung, die das Phänomen der neuen Medien, also der überall entstehenden Druckwerke, die ja nicht nur Verstehen und Wissen, sondern auch Panik und Wut in die Welt trugen, ins Geistesgefüge der Menschen brachten. Auch Gustav Freytag schreibt in seinen „Bildern aus der deutschen Vergangenheit“: „Die Furcht, eine bebende, klägliche Furcht umzog entnervend die Herzen. Immer war [der Menschen] Gemüt voll von Aberglauben gewesen, jetzt wurde mit rührender Leichtgläubigkeit alles aufgesucht, was als Eingreifen überirdischer Gewalten gedeutet werden konnte. Man sah am Himmel die schrecklichsten Gesichter, man fand die Anzeigen furchtbaren Unheils in zahlreichen Mißgeburten, Gespenster erschienen, unheimliche Laute klangen vom Himmel und auf der Erde.“

Geschichte schreitet dialektisch voran. So wie ein Gedanke seinen eigenen Widerspruch hervorbringt, wenn er nur richtig gedacht und konsequent zu Ende geführt wird, so bringen auch Epochen der Geistesgeschichte ihren Gegensatz hervor – abstrakt betrachtet ist auch das ein Schritt voran, aber das heißt nicht unbedingt, daß die Welt wohnlicher oder auch nur angenehmer wird. Als am Ende des Mittelalters die Macht der Kirche abnahm, als dann durch die Reformation und die Flut der Druckschriften eine immer größere Unordnung in die Welt kam, wuchs mit der Freiheit auch die Angst. Die europäischen Hexenverfolgungen gingen nicht in erster Linie von der Kirche aus, sondern von einer Explosion der Furcht in der Bevölkerung – und natürlich von Aberhunderten Bücher und Broschüren über das angeblich grassierende Hexenunwesen. Das Christentum brachte aus sich selbst die Reformation hervor, aus dieser entstand eine Epoche der Zweifel, Angst, Wut und Wirrnis, und erst als all die Wut sich in den Europäischen Religionskriegen entladen hatte, als die Religionen sich selbst so weit geschwächt hatten, daß ihre Macht über das Bewußtsein der Menschen nachließ, kam es zum nächsten dialektischen Schritt: Statt Gott und den Geboten der Obrigkeit begann man vorsichtig, der Vernunft zu vertrauen. Es kam zu Fortschritten in der Wissenschaft und in der Medizin, es kam zu Verbesserungen des alltäglichen Lebens, und infolge dessen schöpfte man Zutrauen in die Möglichkeiten des Denkens.

Keiner, der über die Aufklärung spricht, kann es vermeiden, Kants berühmte Zeilen aus seiner Beantwortung der Frage was ist Aufklärung zu zitieren. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ Kant umreißt hier das Zeitlose an der Aufklärung – sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, das ist eben nicht nur die Beschreibung eines historischen Moments, sondern es ist eine zeitlose Handlungsanweisung an alle Menschen, zu allen Zeiten, unter allen nur denkbaren Umständen. Es lohnt sich aber auch, noch die nächsten Sätze zu zitieren: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen […], dennoch gerne unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.“
Die Aufklärung war kein monolithischer Block – so wie der Gedanke des Selbstdenkens und Selbstforschens unterschiedliche Aspekte hat, so bildeten sich unterschiedliche Schulen, Formen und Richtungen heraus: In der frühen Aufklärung standen einander Spinoza und Leibniz gegenüber, beide unbeirrbar in ihrem Glauben an die Erkenntnisträchtigkeit der mathematischen Methode. Leibniz sah die Welt als eine Ansammlung unendlich vieler Seelensubjekte, regiert von einer allwissenden vernünftigen Gottes-Seele, der „Zentralmonade“, während Spinozas Kosmos ein gewissermaßen mathematisches Gebilde ist, eine Folgerung aus den Regeln der reinen Logik, in dem nichts Unvernünftiges existieren kann und auch kein Platz für ein Höheres Wesen ist, es sei denn, man verstünde das logische Weltganze insgesamt als dieses Höhere Wesen. Infolgedessen ist Spinoza auch einer der Urheber der modernen Bibelkritik: Aus der Überlieferung allein, schreibt er in seinem Tractatus Theologico-Politicus, sei kein Wahrheitsanspruch zu begründen; was in der Bibel stehe, der Vernunft aber zuwider sei, dem könne man auch keine gesetzgebende Gültigkeit zubilligen. Den gleichen Gedanken finden wir später bei dem radikalen Atheisten und Aufklärer David Hume: Göttliche Offenbarung, ganz wie Geistererscheinungen, könnten nur für den von Relevanz sein, dem sie tatsächlich begegneten, und per definitionem für niemand anderen. Denn es sei immer sinnvoller, die Zuverlässigkeit des Berichterstatters in Zweifel zu ziehen, als tatsächlich die Existenz von Gespenstern oder göttlichen Botschaften für möglich zu halten.

Der einflußreichste Polemiker der Aufklärung, Voltaire, war ein überzeugter Deist – er glaubte an einen Gott, der vor Unzeiten die Welt geschaffen habe, der sich aber hernach nicht mehr in ihren Gang einmische, einen fernen, wohlmeinenden, aber nicht mehr für konkrete Anliegen oder gar Gebete erreichbaren Uhrmacher-Gott, der die Menschen sich selbst, in eigener Verantwortung, überlassen habe. Demgegenüber stand Julien Offray de La Mettrie, Autor des Werkes Der Mensch eine Maschine bereits als Vertreter eines radikalen Materialismus: Wie es keinen Gott gebe, so sei auch der Mensch nicht bewohnt von irgendeinem göttlichen Geist, und so könne man den Menschen eben doch nicht anders betrachten, denn als einen Mechanismus, in dem keine unzerstörbare, ewige Seele, also kein Geist aus der Maschine, lebe.
Bei Immanuel Kant, der das Konzept der Aufklärung im genannten Aufsatz besser beschrieben hat als jeder andere, ist all dies natürlich komplizierter: Gott und Seele sind bei Kant regulative Ideen, also Forderungen der Vernunft, denen man weder eine Existenz, noch eine Nichtexistenz dogmatisch zuschreiben sollte; zugleich ist Kant aber angetrieben von der Notwendigkeit, die Moral – oder wie er es nennt: das Sittengesetz – vor jeder Relativierung zu retten. Es könne sein, erklärt Kant, daß noch nie ein Mensch wirklich moralisch gehandelt habe, aber selbst das ändere nichts daran, daß man Handlungen beobachte und das unerschütterliche Wissen habe, daß diese so besser nicht hätten geschehen sollen. Seiner Kritik der reinen Vernunft, die unser wissenschaftliches Wissen zugleich auf eine neue, sichere Basis stellt und unser metaphysisches Wissen gnadenlos relativiert, stellt Kant seine Kritik der praktischen Vernunft an die Seite, die uns klare Richtlinien gibt, wie wir unser Verhalten in einer Welt, in der kein Gott uns diktiert, was wir zu tun haben, durchdenken und ausrichten können.
Und natürlich muß man auch Lessing nennen, der eine gegenüber La Mettrie weit vorsichtigere, aber auch menschenfreundlichere Seite der Aufklärung vertritt, indem er den Toleranzgedanken betont. In seiner Erziehung des Menschengeschlechts kündigt sich schon ein neuer, gewissermaßen geschichtstheologischer Ausblick, eine futuristische Hoffnung an, die weit über die dezidierte Nüchternheit von Hume oder La Mettrie hinausgeht: „Nein; sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen, nicht nötig haben wird; da er das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem bloß heften und stärken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu erkennen. Sie wird gewiß kommen, die Zeit eines neuen ewigen Evangeliums, die uns selbst in den Elementarbüchern des Neuen Bundes versprochen wird.“ Und in seinem Theaterstück Nathan der Weise schließlich findet Lessing in der Parabel von den drei Ringen zur schönsten und machtvollsten Fabel, in die das Prinzip weltanschaulicher Toleranz jemals gekleidet wurde: „Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott, zu Hülf’! Und wenn sich dann der Steine Kräfte bei euern Kindes-Kindeskindern äußern: So lad’ ich über tausend tausend Jahre, sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen, als ich; und sprechen.“

Natürlich, die Aufklärung hat viele Gegner. Und zwar nicht etwa nur, wie das Klischee es nahelegt, die Agenten der Inquisituion, die Büttel der Unfreiheit, die Lügner und die Ausbeuter der Dummheit, nein, die dialektische Selbstbewegung des Gedankens brachte auch im Fall der Aufklärung ihre eigene, vernünftig begründbare Gegenbewegung hervor: die Romantik.
Wo bleibe denn das Gefühl, hatten die Aufklärungs-Skeptiker von Anfang an gefragt, wo das Ahnen, das Spüren, wo ist die Vieldeutigkeit, wo die Widersprüchlichkeit der Seele? Wo bleibe der Glaube, wo bleibt die Magie?
Wahrscheinlich findet man die Einwände gegen die Aufklärung nirgendwo besser auf den lyrischen Punkt gebracht als im berühmtesten Gedicht von Novalis:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit werden gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Das ist wunderbar formuliert, aber es ist natürlich eine poetische und keine buchstäbliche Wahrheit. In der realen Welt wird niemand, der an einer Krankheit leidet, sich der Hoffnung hingeben, daß die „so singen oder küssen“ diese besser zu heilen vermögen als ein Facharzt oder daß man „in Mährchen und Gedichten“ zuverlässigere Historiographie zu finden vermöchte als in soliden Geschichtsquellen. Auch Novalis glaubt das natürlich nicht – die Wahrheit, auf die er abzielt, ist eine poetische: Jene nämlich, daß die Menschenseele reich und widersprüchlich ist, daß uns eine Welt ohne Übersinnlichkeit zwar beruhigt, aber dann auch oft wieder als eine arme Welt erscheint, daß wir die Religion in dem Augenblick, da wir von ihren Zwängen befreit sind, als Hort von Sicherheit und Geheimnis vermissen, und daß das menschliche Verhalten niemals bloß vernünftigen Regeln und Grundsätzen folgen kann – wir können die Widersprüchlichkeit nicht ablegen, ja im Grunde wollen wir das gar nicht.

Solche Einwände aber kann man nur als von der Aufklärung geprägter Mensch vorbringen. Auch Novalis ist ein solcher. All die Romantiker sind es, ob sie es wollen oder nicht. Nach einer beseelten Natur kann sich nur sehnen, wer diese nicht mehr als Hort des Todes und des unbestimmt Bösen erlebt. Die Gemälde von Caspar David Friedrich, die Romane von E.T.A. Hoffmann, die Gedichte von Joseph von Eichendorff und eben Novalis – all dies kann nur gedeihen wenn die Natur nicht mehr angstbesetzt ist und die Künstler das Zutrauen haben, daß sie nicht buchstäblich der Teufel holen wird, wenn sie ihre dunklen Phantasien in Bild und Wort setzen. Und auch der wirkungsmächtigste Gegner der Aufklärung, Jean Jacques Rousseau, der als erster an die Kraft von Gefühl, Herkunft und Gemeinschaft appellierte, ist ebenfalls durch und durch Aufklärer, der weder die Autorität der Kirche, noch die Vorstellung einer animierten Natur oder eines gütigen Vaters im Himmel wiederherstellen möchte, und der Streit zwischen ihm und seinem Antipoden Voltaire ist nicht ein Konflikt um die Aufklärung, sondern ein Konflikt zwischen Aufklärung.
Der romantische Angriff gegen die Aufklärung aus dem Geist der Aufklärung – der „Aufstand gegen den Mythos einer idealen Welt“, wie Isaiah Berlin ihn beschrieb – hat natürlich ernstere Konsequenzen im in jeder Hinsicht ernsteren zwanzigsten Jahrhundert gefunden: Hier trifft der Geist der Aufklärung auf den Einwand, daß die Wissenschaft ja schließlich Giftgas und Atombomben möglich gemacht hat und daß auch ihre bisher letzte Erfindung, die Künstliche Intelligenz, ebensogut zum Segen der Menschheit wie zu deren Auslöschung führen könnte. Das ist alles richtig – und doch würden auch die, welche diese Vorwürfe eloquent vortragen, in keiner anderen Zeit zum Zahnarzt gehen wollen als in der unseren, und sie würden sich auch kein Leben zurückwünschen, in der man jeden Menschen, der einen mit bösem Blick ansieht, der Übertragung übler Geister verdächtigen würde.

Die Aufklärung ist eine historische Periode, die nach den europäischen Religionskriegen begann und bis zur Französischen Revolution andauerte. Sie ist aber auch eine Geisteshaltung – und zwar die beste, die vernünftigste, die anständigste, die am meisten Erfolg versprechende, die einem denkenden Menschen zu Gebote steht. Sich des eigenen Verstandes ohne Anleitung durch einen anderen zu bedienen – wie viele schlechte Dinge wären unterblieben, in jedem einzelnen Leben, sowie in der Weltgeschichte als ganzem, hätte man sich an Kants „Wahlspruch der Aufklärung“ gehalten! Die Versuchung, sich nicht wie ein aufgeklärter Mensch zu verhalten, ist immer da, in jeder Situation, ja sogar bei jeder spannenden Geschichte. Der Guru und sein Gegner, sie sitzen einander gegenüber, der Guru konzentriert sich, wie geht der Kampf aus?
Nun ja, lacht der Aufklärer, wie soll er schon ausgehen?
Und dann erinnert man sich und lacht ebenfalls, befreit und ein wenig beschämt zugleich. So wie ich zugleich mich beschämt und befreit fühlte, als mein Freund an dieser Stelle die Geschichte abbrach.