Kairos. Der Richtige Moment

Romantik und Impressionismus

Markus Gabriel

Romantik (1800–1850): Kunst & Welt

Eine alte, niemals endgültig beantwortete Frage lautet, ob die Welt endlich oder unendlich ist. Beantworten lässt sie sich allenfalls durch Gedankenexperimente. Denn wir können prinzipiell nicht an die Grenzen des beobachtbaren Universums reisen. Je näher wir ihnen kämen, desto schwieriger würde es, diese Annäherung zu überleben, da wir in alle Himmelsrichtungen vom Urknall umgeben sind, der es unmöglich macht, über ihn hinauszublicken. Am Rande des Universums kann man leider nichts mehr erkennen. Kein Teleskop wird diesen Schleier jemals lüften.[i] Selbst wenn die theoretische Physik und Kosmologie eine Lösung für die Struktur des beobachtbaren Universums anbieten könnte, hätte sie damit nicht ausgeschlossen, dass es andere Universen gibt, die von unserem isoliert sind. Die Naturwissenschaft kann prinzipiell nicht sicherstellen, dass sie an ein Ende gekommen ist und alles erkannt hat, was sich überhaupt untersuchen lässt. Sie kann kein Verdikt in der Frage fällen, ob die Welt endlich oder unendlich ist – eine Einsicht, die in der modernen Philosophie von Kant formuliert wurde und die der Romantik eingewurzelt ist.

In der Retrospektive verbinden wir die Moderne mit der Kombination zweier Motive: auf der einen Seite führt die ungezügelte Reiselust der neuzeitlichen europäischen Imperien zur Entdeckung neuer Landmassen und damit zur Erschließung des Planeten Erde. Auf der anderen Seite ist diese Entdeckung einer neuen Welt eine Konsequenz der neuzeitlichen Wissenschaft, die ungeahnte technologische Möglichkeiten eröffnet hat. Die Merkmale der Moderne sind daher Reiselust und Erkenntnisdrang. Diese spiegeln sich in der romantischen Weltanschauung.

Hans Blumenberg hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Neuzeit einer Entfesselung der Neugier entspringt. Die Dynamik der Neuzeit wird von Neugierde angetrieben, dem Streben nach Innovation um jeden Preis.[ii] Genau diese Beschleunigung des Ausgriffs aufs Ganze setzt Befürchtungen frei, denen sich die Romantik stellt. Die Romantik kann man geradezu als eine neue Angstkultur beschreiben, die daraus resultiert, dass alle als bekannt und für stabil gehaltenen Verhältnisse ins Wanken geraten.

Es ist kein Zufall, dass der Startschuss der philosophischen Romantik in Jena sich als eine Radikalisierung von Kants kopernikanischer Wende versteht. Der sogenannte Deutsche Idealismus, dessen erste große Gestalt Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre ist, entwickelt ausdrücklich eine Auffassung unserer Subjektivität, der zufolge wir fundamental auf epistemische Horizonterweiterung zugeschnitten sind, was Fichte als „Sehnen“ bezeichnet. Daraus wird dann bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, der dieses Programm auf die Spitze treibt, die „Sehnsucht“, ein niemals stillbares Verlangen, das daraus resultiert, dass Subjektivität nur aus einem Mangel entsteht.[iii]

Damit wird deutlich, dass der Mensch nicht in einen Kosmos eingebettet ist, der auf ihn hin gebaut wurde, sondern dass wir uns stets als Fremdlinge fühlen werden, da wir in der Welt prinzipiell nicht zu Hause sein können. Die Welt wird dadurch unheimlich, ein Ort, der niemals ganz ergründet werden kann, weil diejenigen, die ihn ergründen könnten, sich selber ein Rätsel bleiben, das sich nicht lösen lässt.

Um den modernen Verlust der Illusion einer metaphysischen Heimat des Menschen abzufangen, entwickeln die Romantiker in den Künsten und ihrer theoretischen, vornehmlich philosophischen Erfassung Strategien, das Ungewisse ins Unendliche zu verwandeln. Das Unendliche wird vergegenständlicht, wobei gleichzeitig die Spur unserer unheimlichen Anwesenheit mit ins Bild gefangen wird.

In diesem Licht kann man etwa Caspar David Friedrichs Das Eismeer betrachten, das sich in den romantischen Topos des Schiffsbruchs einreiht, der prominent auch in William Turners Der Schiffbruch und Théodore Géricaults Das Floß der Medusa repräsentiert wird. Himmel und Erde verschmelzen in der Darstellung des Horizonts. Die gesamte Szene antizipiert geradezu den Kältetod des Universums insgesamt, auf den alle Ereignisse zulaufen, ob wir wollen oder nicht. Je näher die Szene in Friedrichs Gemälde dem Betrachter rückt, desto aufgeregter und farbiger gestaltet sich der Eindruck. Dort, wo wir stehen, erinnert das Eis an architektonische Ruinen. Das Eis ist der Zusammenbruch der Zivilisation, es verschlingt jede Anstrengung, sich dem Unendlichen zu nähern, das man prinzipiell nicht erreichen kann, da kein Schritt ein Schritt nach vorn ist, wenn der Horizont immer offen ist und selber kein erreichbares Ziel darstellt.

Das Schiffwrack bietet einen kalten Ausblick, da wir die Öffnungen im Schiffheck sehen und gleichzeitig wissen, dass niemand mehr an Bord imstande ist, unseren Blick zu erwidern.

Das Eis bedeckt die arktische Landschaft und erinnert uns daran, dass wir einer geologisch eingegrenzten Epoche angehören, dem von vielen heute so genannten „Anthropozän“, der Epoche also, in der der Mensch der wesentliche kausale Faktor der Erdgeschichte ist.

Dass das Anthropozän vergeblich ist, drückt sich im Schiffbruch aus, der aufs Ganze gesehen nur eine untergeordnete Bedeutung hat. Der Schiffbruch ist Teil einer Eismasse, die keinerlei Interesse daran hat, dem neuzeitlichen Wunsch des Seefahrers nach Erkundung neuer Landmassen Hilfe zu leisten.

Dennoch ist die Szene nicht ganz so kalt, wie sie erscheint. Die Dynamik des Bildes bezieht uns schließlich als Zuschauer mit ein, wenn wir auch nicht, wie in anderen Bildern Friedrichs, in der Form einer der Szene zugewandten Figur im Bild als Blickpunkt anwesend sind. Unsere Anwesenheit liegt vielmehr darin, dass wir Vorder- und Hintergrund unterscheiden können und dass ein gleichsam eisiger Schaum die harten Kanten im Vordergrund überlagert. Die wolkigen Formationen kontrastieren dem Eindruck des jähen Aufbrechens des Eismeers. Dieser Kontrast verrät, dass es sich beim Eismeer nicht einfach um eine Tatsachenbeschreibung handelt.

Das Eismeer berichtet nicht davon, dass die Unendlichkeit der Natur uns vernichtet, sondern es zeigt, dass wir angesichts der Natur die Idee des Unendlichen in Stellung bringen, um eine Ordnung zu erzeugen, von der wir nicht mehr ohne weiteres glauben können, sie einfach in der Natur durch bloße Beobachtung vorzufinden.

Das entspricht genau demjenigen, was Fichte als Sehnen auffasst, woraus in Schellings Kunstphilosophie die These abgeleitet wird, Poesie sei „Einbildung des Unendlichen ins Endliche“ und „die Kunst in der Kunst“ sei „Einbildung des Endlichen ins Unendliche“[iv]. Friedrich ist für diese Überlegung ein passender Gewährsmann, indem er das Endliche – unsere Perspektive – in das Unendliche ein-bildet.

Im Hintergrund dieser gesamten Überlegung steht eine Passage aus Kants Kritik der Urteilskraft, in welcher der Ausdruck „Weltanschauung“ zum ersten Mal in die deutsche Sprache eingeführt wird.

 

„Nun aber hört das Gemüth in sich auf die Stimme der Vernunft, welche zu allen gegebenen Größen, selbst denen, die zwar niemals ganz aufgefaßt werden können, gleichwohl aber (in der sinnlichen Vorstellung) als ganz gegeben beurtheilt werden, Totalität fordert, mithin Zusammenfassung in eine Anschauung und für alle jene Glieder einer fortschreitend wachsenden Zahlreihe Darstellung verlangt, und selbst das Unendliche (Raum und verflossene Zeit) von dieser Forderung nicht ausnimmt, vielmehr es unvermeidlich macht, sich dasselbe (in dem Urtheile der gemeinen Vernunft) als ganz (seiner Totalität nach) gegeben zu denken. Das Unendliche aber ist schlechthin (nicht bloß comparativ) groß. Mit diesem verglichen, ist alles andere (von derselben Art Größen) klein. Aber, was das Vornehmste ist, es als ein Ganzes auch nur denken zu können, zeigt ein Vermögen des Gemüths an, welches allen Maßstab der Sinne übertrifft. Denn dazu würde eine Zusammenfassung erfordert werden, welche einen Maßstab als Einheit lieferte, der zum Unendlichen ein bestimmtes, in Zahlen angebliches Verhältnis hätte: welches unmöglich ist. Das gegebene Unendliche aber dennoch ohne Widerspruch auch nur denken zu können, dazu wird ein Vermögen, das selbst übersinnlich ist, im menschlichen Gemüthe erfordert. Denn nur durch dieses und dessen Idee eines Noumenons, welches selbst keine Anschauung verstattet, aber doch der Weltanschauung, als bloßer Erscheinung, zum Substrat untergelegt wird, wird das Unendliche der Sinnenwelt in der reinen intellectuellen Größenschätzung, unter einem Begriffe ganz zusammengefaßt, obzwar es in der mathematischen durch Zahlenbegriffe nie ganz gedacht werden kann.“[v]

 

Kant weist hier darauf hin, dass unsere Weltanschauung darin besteht, dass wir Kontakt zu einem nur übersinnlich erfassbaren Unendlichen aufnehmen, das in keinem Zahlverhältnis angegeben werden kann. An dieser Stelle springt die romantische Kunst wiederum ein, die das Unendliche nicht in eine totale, sondern eine globale Weltanschauung überführt. Dazu bedient sie sich der Methode der Herstellung von Unschärfe, wodurch einerseits der Eindruck der Präsenz des Subjekts in seiner Anschauung und andererseits die unkontrollierbare Unverfügbarkeit einer angeschauten Szene dargestellt wird.

Dies kann man etwa anhand von William Turners Ulysses Deriding Polyphemus illustrieren, ein Werk, dessen Verschränkung von mythologischen Motiven und visueller Konstruktion geradezu unerschöpflich ist. Hierbei ist insbesondere in Betracht zu ziehen, dass Polyphem soeben vom reiselustigen Odysseus geblendet wurde. Einer der Protagonisten des Gemäldes ist nicht imstande, die Szene zu sehen. Die Unsichtbarkeit tritt damit pars pro toto über zwei der durch den Titel herausgehobenen Gestalten in Erscheinung: Polyphem verliert den Gesichtssinn, während Odysseus durch seinen Listenreichtum in der Erzeugung von Illusionen am Unsichtbaren teilnimmt. Polyphem ist dem Sinnenschein verhaftet, was Odysseus als Experte des Übersinnlichen ausnutzt.

Hierbei wird ironisch damit gearbeitet, dass das Gemälde seinem Betrachter vielfältige Hindernisse in den Weg stellt, die es erschweren, wohlbestimmte Gestalten im Form- und Farbnebel der Szene auszumachen. Das Gemälde ist selber listig und erzeugt die Illusion der Referenz. Als Gemälde stellt es in der Hinsicht, dass es gemacht wurde, gar nichts dar – wobei hinzukommt, dass „Odysseus“ und „Polyphem“ ohnehin Eigennamen sind, deren fiktionaler Status dafür sorgt, dass sie sich jedenfalls nicht in derselben Weise auf eine wirklich existierende Person beziehen wie, sagen wir, „Joseph Mallord William Turner“.[vi] Dieser Umstand der problematischen Referenz gehört zum Kunstwerk selber. Die Romantik gehört zu denjenigen Perioden der Erprobung von Kunst, in denen die Abgrenzung vom Realismus eine entscheidende Rolle spielt. Sie ergibt sich nicht zufällig im Zusammenspiel mit den idealistischen Variationen der Kantischen Philosophie, die den Gedanken zugespitzt haben, dass Subjektivität wesentlich für die Erscheinung der Wirklichkeit ist. Münzt man dies in eine kunsttheoretische und ästhetisch umsetzbare Einsicht um, liegt es auf der Hand, verschiedene Spuren des Subjekts im Bild zu markieren.

In Turners Ulysses Deriding Polyphemus steht die Subjektivität nicht nur auf der Seite des Betrachters, der sich wie in vielen Gemälden Friedrichs ins Gemälde als ein dort anwesender Zuschauer einschreibt. Wir sind dem Gemälde nicht nur zugewandt, sondern kommen uns selber von der Objektseite aus noch einmal entgegen. Am Horizont scheint die (gemalte) Sonne, die ihr Licht als dicht aufgetragene weiße Farbe beginnt und sich in den Anschein von Helligkeit verwandelt, der sich mühsam über das stillgestellte Geschehen verbreitet, ohne dieses vollständig sichtbar werden zu lassen.

Auch das Wasser spiegelt den Betrachter und sein Bedürfnis, sich in der Wirklichkeit einzufinden, wieder. Aus dem Wasser tauchen Nymphen auf, womit unserem animistischen Bedürfnis Rechnung getragen wird, nicht nur „Zahlen und Figuren“, sondern lebendige Formationen überall dort zu finden, wo wir etwas erkennen können. In Novalis’ Heinrich von Ofterdingen wird diese Idee auf vielzitierte Weise in Versform ausgedrückt:

„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit werden gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.“[vii]

Echte Klarheit besteht aus einer Verbindung von Licht und Schatten. Es gibt schlicht keine absolute Klarheit, sondern eine nicht behebbare Unschärfe, ohne die wir nichts ausdrücken und erkennen könnten. Dies gilt jedenfalls auf dem Gebiet der Erscheinung der Wirklichkeit, sofern diese selber zur Wirklichkeit gehört. Und genau diese Verschränkung von Subjekt und Objekt – die im Deutschen Idealismus kurzum als „das Absolute“ angesprochen wird – drückt Turners Gemälde ebenso aus wie die Zeilen von Novalis, denen zufolge sich die Welt ins freie Leben und in die Welt selber zurückbegibt. Die Welt zeigt sich im freien Leben, nämlich dann, wenn sie erkannt wird. Auf diese Weise kehrt sie gleichsam über das Subjekt in sich selbst zurück. Die Welt bezieht sich über unsere Erkenntnis im romantischen Modell auf sich selber.

Doch diese Selbstbezüglichkeit ist ephemer. Die Romantik verewigt die Subjektivität nicht, sondern erkennt die Vergänglichkeit an, die jedem Einblick mitgegeben ist. Deswegen ist ihr Rückgriff auf die Antike häufig von einer nicht einlösbaren Nostalgie geprägt, womit sie das Thema der Odyssee auf zweiter Reflexionsstufe aufgreift: die Romantik sehnt sich danach, sich wie Odysseus nach einer Heimat sehnen zu können, die sich am Ende erreichen lässt. Doch die Moderne ist u.a. die Entdeckung einer nicht zu überwindenden Heimatlosigkeit des Subjekts, das dadurch omnipräsent wird, dass es keinen ihm zugewiesenen Ort im Kosmos gibt. Subjektivität durchdringt die Wirklichkeit, allerdings unter dem Vorzeichen einer modernen Vergeblichkeit. Das moderne, romantische Subjekt trauert deswegen ständig um den Verlust des Klassischen und schleicht sich auf diese Weise indirekt in die Moderne ein. Der Romantiker sieht die Moderne als einen Verlust an, ohne deswegen glaubhaft danach streben zu können, diesen durch eine Rückkehr zum Klassischen zu kompensieren. Zu sehr ist die Romantik in die freie Sicht auf das Unendliche verliebt, die sich allerdings selber in die Quere kommt.

Daher entsteht die moderne Subjektivitätstheorie mit ihrem Hang zum Unbewussten im Umfeld der romantischen Philosophie und Kunst, da diese darauf aus ist, die scheinbare Transparenz unseres Cartesischen Subjekts aus Bedingungen entstehen zu lassen, die dem Subjekt voranliegen. Besonders eindrücklich haben dies Schelling und Hegel mit ihren Naturphilosophien durchexerziert, die den Geist aus chaotischen, präsubjektiven Bedingungen hervorgehen sehen, von denen er sich nachträglich partiell befreit. Unsere Transzendenz über das natürlich Vorgegebene, das freie Leben, ist keine Sache der Ewigkeit mehr, sondern vielmehr ein vergänglicher Augenblick, in dem sich die Wirklichkeit selbst erfasst.

Der mythologische Inbegriff dieser Konstellation ist Francisco de Goyas Meistwerk Saturno devorando sus hijos, in dem ein berühmtes Motiv aus Hesiods Theogonie weiterverarbeitet wird. Hesiod zufolge beginnt das Goldene Zeitalter ausgerechnet damit, dass Kronos seinen eigenen Vater entmannt und dann aus Furcht vor seiner Kastration seine eigenen Kinder verschlingt. Der einzige, welcher diesem Schicksal entgeht, ist Zeus, der später das Zepter im Olymp übernimmt. Die Volksetymologie setzt bereits in der Antike Kronos mit Chronos, also mit der Zeit gleich und sieht in der Genealogie der Götter eine Einsicht in die Vergänglichkeit der Unsterblichen. Nicht einmal die Götterwelt ist vor ihrem eigenen Untergang gefeit.

In Goyas Darstellung schaffen es die Gestalten – ähnlich wie in den anderen pinturas negras – kaum, sich vom schwarzen Hintergrund zu emanzipieren. Kronos kämpft als Figur aus Öl gegen den Untergrund, auf dem er aufgetragen ist. Am deutlichsten treten in diesem Zuge seine Augen hervor, die uns weit aufgerissen wie wahnsinnig anstarren. Er blickt uns mit dem Blick entgegen, der angesichts der unvorstellbaren kannibalischen Gewalt von unserer Seite aus angemessen wäre.

Damit bedroht er unsere Zuschauerposition wie ein moderner Horrorfilm, in denen abschreckende Verstümmelungsphantasien – etwa drastisch dargestellt in der schauspielerisch gelungenen zweiten Staffel der Amazon-Serie Goliath oder die Grenze der Erträglichkeit überschreitend in Darren Aronofskys Mother! – von der Leinwand auf die Zuschauerposition zurückstrahlen. Kronos alias Saturn erhebt einen stummen Vorwurf, da wir als Zuschauer die Situation gegenständlich ergänzen. Denn das Gemälde selber besteht zunächst nur aus Ölfarbe auf Leinwand, die wir durch unsere Motivkenntnis und Deutungsgewohnheiten als Fleisch wahrnehmen, das intern zerrissen ist.

Genau so dunkel tritt uns die Romantik in Goyas El sabbah de las brujas entgegen. Der teuflische Ziegenbock schaut uns direkt in die Augen, während ihm ein Neugeborenes als Menschenopfer dargeboten wird. Die Romantik entdeckt den Alptraum, der in jedem Traum als Möglichkeit angelegt ist, womit sie natürlich unter anderem den Terror der französischen Revolution aufgreift. Kronos und der Hexensabbat verweisen auf die Guillotine und die Kriege, die Europa in der Folge des Traums einer radikalen Aufklärung auftraten und im Namen einer unbedingten Befreiung zur existentiellen Krise der modernen Subjektivität wurden.

In der romantischen Kunst wird sich die Welt selber fraglich. Die Moderne beginnt damit, ihre eigene Dynamik zu untersuchen und als Kunst zu vergegenständlichen. Sie verdinglicht das Unbedingte im Wissen darum, dass dieser Vorgang zum Scheitern verurteilt ist. Sie beschwört das Geheimnis der Subjektivität, das bis heute mit den bevorzugten Erkenntnismitteln der Moderne – Naturbeherrschung durch Wissenschaft und Technologie – nicht gelöst ist. Dass wir als Subjekte nicht einfach einer Objektwelt gegenüberstehen, sondern immer nur eine Welt kennen, in der wir bereits vorkommen, lässt sich nicht dadurch ausklammern, dass man lediglich eine „Welt ohne Zuschauer“ untersucht. Man wird der Lage auch nicht dadurch Herr, dass man neben diese noch eine „Welt der Zuschauer“ setzt und darauf hofft, diese beiden Welten zu überbrücken oder die eine auf die andere zu reduzieren.[viii]

Die Romantik versucht daher zu Recht, einen dritten Weg zwischen Subjekt und Objekt zu finden und entdeckt auf diesem Pfad den Abgrund, auf dem sich unsere Subjektivität aufbaut. Wir können uns prinzipiell als Erkennende niemals vollständig erfassen, da wir stets darauf angewiesen sind, unter bestimmten Bedingungen zu erkennen, die wir ihrerseits nur in weiteren Akten erfassen können, ohne auf diese Weise jemals zu einer erfolgreichen Selbsterfassung zu gelangen. Wir werden unserer selbst nicht habhaft.

In der romantischen Kunst wird diese Einsicht durch die gleichzeitige An- und Abwesenheit der Subjektivität umgesetzt. Wir sehen, dass wir sehen; wir sehen uns allerdings selber nur als diejenigen, die im Bild abwesend sind. Unser Sehen wird von Vertretern übernommen, die an unserer Statt in die Landschaft oder uns aus dieser entgegenblicken. Auf diese Weise ist die Romantik grundsätzlich desillusioniert, was es ihr ermöglicht, die Illusionen der Subjektivität zu studieren.

Abschließend sei als These festgehalten, dass die Romantik in Kunst und Philosophie die bewahrenswerte Erkenntnis formuliert hat, dass Subjektivität im Scheitern liegt. Subjekte sind keine neutralen Spiegel der Welt, aber auch keine Zerrspiegel, sondern derjenige Anteil der Wirklichkeit, der sich niemals irrtumsimmun begreifen lässt.

 

 

[i] Genaugenommen ist die Sachlage noch schwieriger, da es die Welt als Gegenstand nicht gibt, sodass sich die Frage nach Endlichkeit/Unendlichkeit nur scheinbar formulieren lässt. Vgl. dazu Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013 und ausführlicher Ders., Sinn und Existenz. Eine realistische Ontologie, Berlin 2016.
[ii] Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt am Main 1973; Ders., Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main 1966. Ähnlich neuerdings auch die Diagnose bei Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne, Berlin 2015.
[iii] Vgl. dazu mit einschlägigen Belegen Cem Kömürcü, Sehnsucht und Finsternis. Schellings Theorie des Sprachsubjekts, Wien 2011.
[iv] Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Philosophie der Kunst. Sämtliche Werke, Abt. 1 Bd. 5, Stuttgart 1859, 461.
[v] Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Stuttgart 2011, 149-150.
[vi] Vgl. dazu ausführlich Markus Gabriel, Fiktionen, Berlin 2019 (i. Ersch.).
[vii] Novalis, Heinrich von Oefterdingen, Stuttgart 2016, 202.
[viii] Vgl. dazu meine Trilogie Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013; Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert, Berlin 2015; Der Sinn des Denkens, Berlin 2018.