Max Schmelcher

Kokons, 2021/22
Verchromter Draht, 4 Stück, je ca. 220 x 50 x 50 cm
(Leihgabe des Künstlers)

An der Fassade der mSE Kunsthalle hat Max Schmelcher große Gewebe aus verchromtem Draht angebracht, die sich im Wind bewegen und in der Sonne glitzern. In den »Kokons« von einer Länge zwischen zwei und zweieinhalb Metern hätte ein Mensch, der sich verpuppen wollte, Platz. Tatsächlich scheint in einem der silbrigen Gebilde, dem in der Nord-Ost-Ecke des Gebäudes, der Umriss einer menschlichen Gestalt durch das Gespinst, die anderen Kokons zeigen anscheinend frühere Stadien der Transformation.

Max Schmelcher wurde 1959 in Lindenberg geboren. 1988 schloss er sein Studium an der Münchner Kunstakademie, wo er Meisterschüler von Erich Koch gewesen war, ab. Seither arbeitet er als Bildhauer in den Materialien Stein, Bronze, Metall und Holz, aber auch mit dem Naturmaterial Torf, das sich im Trocknungsprozess selbständig und nicht genau steuerbar verändert. Der Künstler lässt den Schaffensprozess als behutsame Annäherung an natürliche Prozesse zu. Die Faszination für Vorgänge in der Natur inspirierte Max Schmelcher auch zu den »Kokons«: Die Werke sind den Kokons des Nachtpfauenauges nachempfunden.

Seit mehreren Jahren züchtet der Künstler heimische Schmetterlinge, beobachtet ihren Lebenszyklus und baut die Produkte ihrer Metamorphose – darunter die Kokons und das leuchtend rote Mekonium, das Schmetterlinge bei der erstmaligen Entfaltung ihrer Flügel ausstoßen – in seine Kunstwerke ein. Den Bau des Kokons eines Nachtpfauenauges beschreibt Max Schmelcher als Gewebe aus einem einzigen Seidenfaden, das er mit seinen »Kokons«, die je aus einem einzigen Draht gefertigt sind, nachahmt. Das Kleine Nachtpfauenauge, das in Mitteleuropa verbreitet ist, gehört zu den Pfauenspinnern, von denen manche Unterarten zur Seidenproduktion eingesetzt werden können.

Die Nachtpfauenaugen fliegen für kurze Zeit zwischen Mitte April und Mitte Mai, die Männchen bei Tag auf der Suche nach Weibchen, deren Duftstoffe sie kilometerweit wahrnehmen können, die Weibchen nachts zur Eiablage. Die Eier werden an Futterpflanzen abgelegt, wo die Raupen schlüpfen und sich einen Fettvorrat anfressen, der für den Rest ihres Lebens reicht. An geschützten Stellen, wie es proportional vergrößert das Vordach und die Streben der Kunsthalle sind, bauen die Raupen einen Kokon, in dem sie während ihrer Verpuppung geborgen sind und vor dem Schlüpfen überwintern. Die Kokons sind eiförmig und braun. Wenn das Nachtpfauenauge als flugfähiges Vollinsekt schlüpft, ist es im letzten Stadium der Metamorphose nur noch auf Fortpflanzung aus. Es nimmt keine Nahrung mehr auf und hat auch keine funktionierenden Mundwerkzeuge mehr, es bestäubt keine Blüten, sondern fliegt bei Tag oder Nacht auf der Suche nach einem Weibchen beziehungsweise nach einem Ort zur Eiablage.

Wenngleich Schmetterlinge in ihrem Flug besonders zart und empfindlich wirken, sind sie sehr artenreich und weitverbreitet; das Kleine Nachtpfauenauge ist in Mitteleuropa in seinem ausgedehnten Verbreitungsgebiet häufig, wenngleich der Großteil des Lebens der Tiere in früheren Entwicklungsstufen verbracht wird. Diese Daseinsform mit einer scheinbar reglosen Zwischenphase der Verpuppung macht Schmetterlinge zu besonders symbolträchtigen Tieren.

In Griechenland bezeichnet »ψυχή« sowohl den Schmetterling als auch die Seele eines Toten. Der Schmetterling galt in der Antike als Sinnbild der Wiedergeburt und der Unsterblichkeit; die Seele wird häufig mit Schmetterlingsflügeln dargestellt, wie Psyche, die mythologische Geliebte des Amor, deren spätere Darstellungen wegen besagter Flügel oft ausgesprochen kitschig wirken. Für das Christentum ist der Schmetterling ein sehr seltenes, eher kurioses Symbol der Auferstehung, wobei die frappante Unähnlichkeit von Raupe und Schmetterling eine anschauliche Erinnerung daran sein kann, dass das Leben nach der Auferstehung nicht als bloße Fortsetzung des irdischen Lebens verstanden werden darf.

Am selben Tag kamen zu Jesus einige von den Sadduzäern, die behaupten, es gebe keine Auferstehung. Sie fragten ihn: Meister, Mose hat gesagt: Wenn ein Mann stirbt, ohne Kinder zu haben, dann soll sein Bruder dessen Frau heiraten und seinem Bruder Nachkommen verschaffen. Bei uns lebten einmal sieben Brüder. Der erste heiratete und starb, und weil er keine Nachkommen hatte, hinterließ er seine Frau seinem Bruder, ebenso der zweite und der dritte und so weiter bis zum siebten. Als letzte von allen starb die Frau. Wessen Frau wird sie nun bei der Auferstehung sein? Alle sieben haben sie doch zur Frau gehabt. Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Ihr irrt euch; ihr kennt weder die Schrift noch die Macht Gottes. Denn nach der Auferstehung heiratet man nicht, noch wird man geheiratet, sondern die Menschen sind wie Engel im Himmel. (Matthäus 22,23–30)