Sibylle Semlitsch
o. T., 2017
Marmor, 75 x 70 x 70 cm
Leihgabe der Künstlerin
Das Werk
Sibylle Semlitsch nennt Kunst »Passion und Weg zugleich«. Dass es bei einem Weg nicht nur auf den Anfang und das Ziel ankommt, sondern auf die Bewegung dazwischen, veranschaulicht ihre titellose Skulptur aus dem Jahr 2017. Der Marmor ist zu einem Knoten behauen, in dem, so die Künstlerin, »die Schwere des Materials und die Schwunghaftigkeit der Ausführung in ein ambivalentes Spannungsverhältnis« gesetzt sind, zu einem Weg, »der nicht immer einfach ist.«
Versucht man, die Schwünge des Knotens zu verfolgen und die Figur gedanklich aus dem Material des Steines zu lösen, kann man schnell an die Grenzen des eigenen Vorstellungsvermögens stoßen. Es kostet einige Anstrengung, um den Knoten als Achtknoten zu erkennen. Um ihn in die typische Form zu bringen, muss man von den Drehungen der Schlingen absehen, die für die Art des Knotens keinen Unterschied machen. Eine Hilfestellung dafür ist, den Knoten aus einer Schnur lose zu knüpfen, die beiden Enden auf dem Tisch festzukleben und die Schlingen verschieden zu drehen, zu engen oder zu weiten, zur klassischen Form des Achtknotens, zur Form der Marmorskulptur und zu allen weiteren möglichen.
Ein solcher Selbstversuch (den die Abbildung nicht ersetzen kann) lohnt sich unbedingt. Zum einen vermittelt er eine Ahnung von der beeindruckenden räumlichen Vorstellungskraft der Künstlerin, die das Gebilde in bestechender Komposition aus einem Marmorblock gelöst hat. Zum anderen führt er an die Knotentheorie als Teil der mathematischen Topologie heran, in der geometrische Gebilde in ihren wesentlichen Eigenschaften beschrieben werden. Solange diese erhalten bleiben, kann man ein Gebilde im Raum beliebig drehen, biegen, aufblähen oder schrumpfen, auch nur in einzelnen Teilen, ohne sein Wesen zu verändern.
Lässt man sich auf diese Vorstellung ein, gewinnt die Engführung von Kunst, Passion und Weg an spekulativer Faszination: Könnte es sein, dass Wege – Wege des Kunstwerks, Lebenswege – trotz verschiedener Umrisse und Lagen wesentlich identisch sind?
In der Passion tritt Jesus seinen letzten Weg nach Golgotha an. Anfang und Ende des Weges sind im abstrakten Raum der Ewigkeit fixiert: Der göttliche Ratschluss sieht vor Beginn der Zeit Jesu Geburt und seinen Opfertod vor. Was dazwischen geschieht, überliefern in der wesentlichen Gestalt die Evangelien und die Tradition, die etwa den Weg nach Golgotha und alles, was sich dabei ereignet haben mag, in die Kreuzwegstationen fasst. Wie bog sich der Weg von Station zu Station? Es bleibt ein melancholischer Rest, etwas, das für unsere menschliche Vorstellung nicht erfasst ist: die Verformungen, Biegungen und Drehungen unseres Lebens, von denen wir fürchten, dass sie sub specie aeternitatis keinen Unterschied machen.
Einer solchen Melancholie stellt sich die Künstlerin mit ihrer Marmorskulptur entgegen und betont, dass »der Knoten noch nicht zugezogen« ist: »Es ist also noch alles offen.« So könnte also der Mensch den Knoten seines Lebens lösen und einen neuen schlagen.
Wie zahlreich sind deine Werke, HERR, / sie alle hast du mit Weisheit gemacht, die Erde ist voll von deinen Geschöpfen. Da ist das Meer, so groß und weit, / darin ein Gewimmel, nicht zu zählen: kleine und große Tiere. Dort ziehen die Schiffe dahin, der Levíatan, den du geformt, um mit ihm zu spielen. (Psalm 104, 24–26 )
Sibylle Semlitsch
1968 | geboren in München-Pasing |
Ausbildung zur Steinmetzin | |
seit 1997 | Tätigkeit als Steinbildhauerin und Schriftgraveurin |
2001–2017 | Dozentin an der »Schule der Fantasie Planegg/Martinsried« |
seit 2004 | Ateliergemeinschaft in München-Pasing |
Einzel- und Gruppenaustellungen im In- und Ausland, darunter Südtirol und Polen | |
Zahlreiche Ankäufe durch Sammler zeitgenössischer Kunst | |
Mitglied der Künstlergruppe ZAK 2020 WürmART | |
Mitglied der Künstlergruppe ApoPo |