Kunstepochen
Für das Kairos-Projekt hat Wolfgang Beltracchi Gemälde von verpassten Bildmotiven aus 23 Epochen der Europäischen Kunstgeschichte gestaltet. Hier stellen wir hier einzelne Beispiele näher vor.
Antike und Mittelalter
Renaissance und Barock
Aufklärung und Rokoko
Romantik und Impressionismus
Jahrhundertwente und Moderne
Avantgarde
Antike und Mittelalter
Monstren der Schönheit. Signale aus der virtuellen Antike – Peter Sloterdijk
1 Imitationsgeist
2 Klassizismus in Retrospektive
3 Nachahmung, postgenial
4 Der unterirdische Louvre
5 Platons Asche
6 Postludium: Wohin das alles?
1 Imitationsgeist
Niemand kann bezweifeln, daß seit dem Aufkommen der digitalen Techniken eine neue Epoche des Kopierens angebrochen ist. Weil das Kopieren, noch vor dem Erfinden, die Basis-Tätigkeit von Kulturen darstellt, verändert das neue Verfahren die Ökosysteme der Zivilisationen von Grund auf. Man könnte den Vorgang in geopolitischer Sicht die Ära der Sinisierung nennen, in kulturgeschichtlicher Perspektive das anbrechende Weltalter der Künstlichen Intelligenz – einer Intelligenz, die auch das Kopieren kopiert, das Lernen „lernt“ und die Selbststeigerung simuliert. Beide Kennzeichnungen konvergieren in der Beobachtung, wonach der „Weltgeist“ – den Hegel von Osten nach Westen prozessieren lassen wollte – inzwischen die Umrundung der Erde vollzogen hat, um erneut von Osten her auf das Übrige auszugreifen.
Bei der zweiten Umrundung setzt die Nachahmung dazu an, die Kreation zu verschlingen. Nichts erregt den Geist der Imitation heftiger als die konstruktive Aktivität Anderer, mit denen man sich in Rivalität sieht. Wer bemerkt, wie andere „Zivilisationen“ Staaten aufgestellt haben, samt Armeen, Fabriken und Schulen, ebenso Banken und Kaufhäuser, Stadien, Museen und Medienhäuser, möchte früher oder später dergleichen auf dem eigenen Territorium in Position bringen – und wäre es um den Preis, selber erfinderisch werden zu müssen. Da die Nachahmung der Modernen sich in zunehmendem Maß auf die gewesene und fortgehende Erfindungsfähigkeit Anderer bezieht, wandeln sich erfolgreiche Nachahmungsherde zu Innovationszentren. Kompetenter Neid nimmt die Form von Konkurrenz an, indessen mittelloser Neid beim Wunsch nach der Herabsetzung des Rivalen stehenbleibt; Konkurrenzunfähigkeit begnügt sich mit Beleidigungen; sie macht Pläne zur Korrumpierung des Überlegenen.
Die kraftvolle Nachahmung, die den Durchbruch zum Erfinden einschließt, manifestiert sich an den zivilisatorischen Brennpunkten der Erde seit dem Beginn der europäischen Neuzeit in einer Serie typischer Einrichtungen. Nennen wir sie nach ihren Prinzipien: Etatismus, Militarismus, Industrialismus, Szientismus, Pädagogismus, Monetarismus, Konsumismus, Athletizismus, Tourismus, Musealismus; zur Etablierung moderner sozialer Systeme gehört zudem die stetige Überflutung der Gesellschaftskörper mit lokalen Redundanzen, die als „Informationswesen“ mißdeutet werden.
Nachahmungen dieses Typs weisen durchwegs die Form von „Klassizismen“ auf. Der Ausdruck ist hier nicht im kunstgeschichtlichen Sinn zu verstehen, er zielt auf die Vorbildwirkung von „klassisch“ gewordenen „besten Verfahren“, gleichgültig auf welchem Gebiet, gleich ob es um chirurgische Eingriffe geht oder um Elektromotorenbau oder Waffensysteme oder Fernsehformate oder Weltraumkapseln oder das Design für Biennalen. Bei Wiederholungen mit akutem Rivalitätscharakter sind die Imitate von den Modellen nicht durch Epochen getrennt, sie folgen ihnen in relativer zeitlicher Nähe. Das Westeuropa des 19. Jahrhunderts bildete die Klassik des modernen Japans, die USA nach dem Zweiten Weltkrieg die Klassik des zeitgenössischen Chinas. Das Phänomen, das in der europäischen Kunstgeschichte „Renaissance“ hieß, hat sich auf allen Feldern des Künstlichen verallgemeinert. Aus globaler Sicht bildet die Modernität eine Summe von Renaissancen ohne größere Zwischenzeiten. Der Streit zwischen den Alten und den Modernen, in dem sich die Letzteren am Ende des 17. Jahrhunderts ihrer originellen Qualitäten vergewissern wollten, wiederholt sich gegenwärtig auf vielen Praxisfeldern als Streit kurzfristig gegeneinander versetzter Modernitäten.
2 Klassizismus in Retrospektive
Verengen wir das Feld der Beobachtungen auf die Sphäre der Künste nach der Zäsur der Moderne, so fällt ins Auge, daß das gesamte Ökosystem von Nachahmung und Innovation sich seither um die eigene Achse gedreht hat. Ein neuer Werk- und Kunstbegriff hat die alteuropäische Überlieferung ausgehebelt. In seinen geschichtemachenden Überlegungen zum „imaginären Museum“, wie es der Kunstbuch-Fotografie entsprang, hat André Malraux den Nachweis geführt, demzufolge die westeuropäische bildende Kunst zwischen 1400 und 1900 einem einzigen Paradigma unterstand, das man summarisch als „Klassizismus“ bezeichnen kann. Klassizistisch ist Kunst im Dienst der Idealisierung; sie zeigt das Schöne im Auftrag von Majestäten und das Erhabene unter dem Vorzeichen kontrollierter Transzendenz. Wo Macht sich gemäß dem decorum darstellen will, greift sie architektonisch wie bildnerisch auf eine antike Syntax zurück. Bei dieser Operation wird das „Genie“ des Künstlers zur historischen Notwendigkeit, um das Element der Nachahmung mit dem Impuls der Neuerung nach Gebühr zu vermitteln. Klassisch heißt der Raum, in dem solche Vermittlungen möglich sind.
Wenn wir annehmen, die „Kunst der Moderne“ sei nicht nur ein Aphorismus in der Geschichte bildnerischer Formulierungs-Tätigkeiten gewesen, sondern stelle eine authentische Epoche dar – epochè bedeutet zunächst den Abstand, den Einschnitt oder den Schritt zurück, der die Sicht verändert –, so ist zuzugeben, daß mit ihr ein radikaler Bedeutungswandel des Klassischen bzw. Paradigmatischen einhergeht. Nach der Zäsur, gleichgültig ob man sie mit der Impression einsetzen läßt oder der Abstraktion oder der Plakatrhetorik, wird jeder maßgebliche Kunstschaffende zu einem Paradigmensetzer eigenen Rechts. Sein oder ihr Werk erfüllt in der Folge mehr oder weniger das Muster, das er oder sie für sich selbst aufstellte. Neben dem erlöschenden Makroparadigma der alt-europäischen klassisch-klassizistischen Kunstperiode schießen um 1900 und im Jahrzehnt danach allenthalben die Universen einzelner großer Kreativer empor, die bevorzugt ihr Mikroparadigma elaborieren – interne Phasenwechsel nicht ausgeschlossen. Der Makroklassizismus des globalen Kunstprozesses seit der „Renaissance“ gibt binnen kurzem den Mikroklassizismen der neu gewagten „Werke“ freien Raum, belebt und geregelt von ausschließlich inhärent plausiblen Formen der Strenge.
Den prägnanten Begriff hierfür hat Georg Simmel geprägt, als er vom „individuellen Gesetz“ sprach. Das Genie-Konzept nach der Zäsur kontrahiert sich auf das Format eines Endo-Klassizismus. Der Künstler, gleich welchen Ranges, wird zum Klassiker der eigenen Gestaltungsweise. Wäre Picasso nicht ein Genie gewesen, ja Genie jenseits von Genialität, wäre er, zumal mit seinem Werk der 30er und 40er Jahre, als der erfolgreichste Picasso-Fälscher bekannt geworden, über den schon erlangten Ruhm hinaus. Die Großen der Moderne gründen Paradigmen, die sie zu Lebzeiten selbst kaum auszuschöpfen fähig sind. Groß sind sie auch insofern, als sie notwendigerweise unvollendete „Werke“ hinterlassen. Œuvres heißen seither unabgeschlossene Serien aus einer Hand. Hierdurch kommen sie der Vorliebe der post-romantischen Ästhetik fürs Unvollendete entgegen. Die Moderne, die Epoche der Halbgläubigkeit, wendet sich Göttern zu, die nicht fertig geworden sind.
3 Nachahmung, postgenial
Definieren wir die ästhetische Moderne als die Ära der Endo-Klassizismen – jeder größere Künstler elaboriert sein Œeuvre als sample seines Kunstvermögens in den Grenzen seiner Lebenszeit (weswegen die Großbiographie und die Retrospektive zu den Königsgattungen der jüngeren Kunstgeschichte gerieten –), so zwingt die Idee sich auf, es werde unweigerlich eine Ära „nach der Moderne“ geben müssen, eher früher als später.
Postmodernität folgt postgenialen Arbeitsformen. Die Künstler der Zeit nach der Moderne hören auf, die Tiefen ihres Werk-Paradigmas auszuschöpfen – wie man es noch bei Cézanne, Matisse, Klee, Beckmann und anderen beobachten durfte. Die Mikroklassizität der erneuerten bildenden Kunst nach dem Ausklingen der Klassizismen erweist sich imstande, auf das Gebiet der postgenialen Nachahmung überzuwechseln. Der Vorgang vollzieht sich – „naturgemäß“ – in aller Deutlichkeit bei den bekannten Namen der amerikanischen Prä-Postmoderne, Andy Warhol an erster Stelle. Er ersetzte die Selbst-Ausarbeitung des möglichen Genies durch die postgeniale Serialisierung eigener und fremder Produkte, wobei er die Kunstgläubigkeit der Anfänger wie die der fortgeschrittenen Betrachter mit einer effektvollen Mischung aus Naivität und Zynismus instrumentalisierte.
Was Warhol und seine Zeitgenossen nicht begreifen konnten, ist ihre eigene intermediäre Rolle in der Geschichte der Künstlichen Künstlerischen Intelligenz. Seit dem Jahr 2000 setzt die Künstliche Intelligenz zum Tigersprung in die radikale Veränderung der Nachahmung an – (aus der Sicht früher Meisterdenker der Kybernetik: Norbert Wiener, Gotthard Günther, Max Bense, Marvin Minsky, wurden die Prämissen zum Großen Sprung schon von der Mitte der 50er Jahre an geschaffen ). Es scheint nun, die Nachahmung müsse nicht länger den Umweg über das Erlernen einer artistischen Technik nehmen, ja nicht einmal mehr über die Parodie eines entselbsteten Könnens mittels der Serialität. Es „genügt“, Programme zu schreiben, die das Können des Gekonnten und das Erfinden des Erfindbaren auf Maschinen zweiter Ordnung übertragen. Ernst zu nehmende Prognosen sagen voraus, spätestens bis zum Jahr 2040 würden Kunst-Automaten imstande sein, jedes Werk der Vergangenheit – wie möglicherweise auch der Zukunft –, malerisch, plastisch, literarisch oder musikalisch, auf dem Stand des avancierten zeitgenössischen Könnens zu reproduzieren. Das von der Technischen Universität Delft sowie von Microsoft und einer Werbefirma erstellte, im April 2016 zu Amsterdam enthüllte Werk The Next Rembrandt gibt einen Vorgeschmack auf Kommendes. Es heißt, die Automaten seien dann fähig, die Paradigmen von Epochen, Schulen und einzelnen Künstlern zu extrahieren, zu amplifizieren, um sie in nie gesehene und gehörte Ausführungen voranzutreiben. Trifft dies zu – wer sind wir, es zu bezweifeln? –, sollten wir bereit sein, uns als die aussterbenden Zeugen des überwiegend von Menschen Gemachten zu begreifen.
Was bedeuten diese Überlegungen für das künftige Verständnis der alten Kunst? Der Konvention folgend dürfen wir davon ausgehen, die griechische Antike habe in zwei Kunstbereichen ihr Bestes gegeben: dem der epischen und dramatischen Dichtung sowie dem der Plastik. Folglich haben wir gute Gründe anzunehmen, ein subtil kalibriertes Sophokles-Programm werde ab 2040 imstande sein, eine neue dramaturgische Antike zu produzieren, vermutlich in spielerischen Annäherungen an die zahlreichen verlorenen Originale. Zugleich ist zu unterstellen, lernfähige Drucker würden um dieselbe Zeit fähig sein, nicht nur jede Statue von Polyklet, Phidias oder Praxiteles in molekularer Präzision nachzubilden, ob die nun selbst ein Original war oder eine antike Kopie – was wir alte Kunst nennen, ist ja in erheblichem Maß durch Kaskaden von Meisterwerk-Kopien bestimmt, die Platons Reflexion über Urbild und Abbild aus der akademischen Diskussion in die Werkstätten übertrugen. Sie werden über die Fähigkeit verfügen, unerschaffene Varianten der besten originalen Werke zu erzeugen.
„Programme“ können „genial“ werden – sofern Genialität heißt, auch anders können als bisher. Sie impliziert die Fähigkeit, im Werkprozeß neue Freiheitsgrade der Gestaltung zu eröffnen. Warum sollte nicht in späterer Zeit aufgegriffen werden, was in der virtuosen Antike begonnen hatte? – die Emanzipation von der Symmetrie, die Einbeziehung der Bewegung ins Unbewegte, die Verspottung der Schwerkraft, die Einbeziehung des Unsichtbaren ins Sichtbare, die Erosion der gefaßten Pose durch die private Laune, ? „Geniale Maschinen“ sind jene, die die Lücken in der Syntax des Humangenies finden. Ihr savoir faire deckt unmißverständich auf: Im positiv Geschaffenen ist Unverwirklichtes latent, ob bei den Alten oder den Modernen, um von den Zeitgenössischen zu schweigen. Die smarten Drucker werden nach Belieben Torsi hervorbringen, dem modernen Geschmack an Halbfertigem, Zerbrochenem entgegenkommend. Wo Vollkommenheit nicht hoch im Kurs steht ist, läßt sich Fragmentarität nach Programm erzeugen. Die Post-Genialität geht ins Zeitalter ihrer künstlichen Reproduzierbarkeit über – ohne daß „Aura“-Probleme ins Spielt kämen, um auf Walter Benjamins konfusen Essay Bezug zu nehmen, das meistüberschätzte kunst-theoretische Elaborat des 20. Jahrhunderts. Damit ist besagt: Klassik und Klassizität – griechische antike Kunst und ihre westeuropäische variabel-intensive Nachahmung – sind beide vor Nachahmungen zweiter und höherer Potenz nicht sicher. In Reproduktionen kann zunehmend immanente Steigerung enthalten sein. Kreative Automaten geben den Blick nach oben frei. Sie erzeugen rückwirkend Meisterwerke aus alter Zeit. Man darf schon heute in eine Zukunft vorausschauen, in der die Gärten chinesischer Oligarchen von den Statuen griechischer Sieger bevölkert werden, aufgestellt in kunstvoll verdrehten Posituren, für die es keine antiken Modelle gibt.
4 Der unterirdische Louvre
Wie also wird die Antike im Zeitalter ihrer vollendeten Kopierbarkeit uns vor Augen stehen? Griechische Archäologen, wahre Söhne des Odysseus, werden sich nicht mehr damit begnügen, Objekte der heroischen Antike aus dem Boden von Hellas hervorzugraben. Eine invertierte Archäologie wird eine neue Ära einläuten, indem sie Meisterwerke der 3-D-Drucker-Ära in der Erde ihres Heimatlandes versenkt, um einen unterirdischen Louvre zu erschaffen, kommenden Generationen von Kunsthistorikern gewidmet, die wieder mit dem Spaten habilitieren, von Big-Data-Programmen unterstützt.
Die Para-Archäologie der Zukunft wird darauf spekulieren, Europa werde in den Tagen avancierter Dekadenz noch mehr als heute zu seinen „griechischen Wurzeln“ zurückkehren wollen. Die Basis der Virtuellen Antike liegt in der bewährten Maxime: Europa will betrogen werden. Die Funde werden demgemäß so beschaffen sein, daß sie sogar eine Welt, die alles gesehen zu haben meint, in Erstaunen setzen. Man gräbt aus, was die Alten nie vor Augen hatten. Gespanne aus Olympia mit glühenden Drachen und geflügelten Kamelen vor dem Wagen des Lenkers (Orientalismus ante litteram); Diskuswerfer, die die Wurfscheibe losgelassen haben und ihr nachblicken wie torkelnden Offenbarungen (Bewegungsbilder vor der Holographie); Amazonenschilde, mit abschreckend aufgerissenen Vulven verziert und verheerenden Beleidigungen beschriftet (Feminismus vor den Menschenrechten); groteske Masken, die den karibischen Karneval vorwegzunehmen scheinen (Hybridität vor dem Postkolonialismus); Götterbilder, aus denen sich ein Dutzend Olympe zusammenstellen ließen (Polytheismus vor den Katalogen der Star-Agenturen); Jungfrauen, die sich libellenförmige Sandalen binden (Formalismus vor dekadentem Jugendstil), Jünglinge auf Vasen, die sich mit Erektionen räkeln wie pornographischen Journalen der Jetztzeit entstiegen (Körperkult auf postmilitärischen Fluchtlinien). Man findet eines Tages den mit Drachenschuppen überzogenen Olisbos, dem Alexanders Mutter, Olympias, zugetan war; zudem hebt man eine exorbitante Ornamentik ans Licht, die die Arabesken des Orients wie Kinderspiele erscheinen läßt; schließlich findet man den Schild des Achilles, auf dem erstmals ein „Weltbild“ in Worten figuriert worden war, wie der 18. Gesang des Ilias es „schildert“, das Plenum des irdischen Daseins, in Szenen aus Erz und Edelmetallen nachgebildet, undurchdringliche Waffe, enzyklopädisches Immunitätsymbol und selbstwahrmachendes Emblem der unbesiegbaren Ganzheit. Zuletzt gelingt es sogar, das Brauthemd der Penelope zu rekonstruieren, das, Homers Bericht zufolge, unter dem Andrang der johlenden Freier so lange zwischen täglichem Gewebe und nächtlicher Entflechtung hin und her wanderte. Man weiß nun, es war keine monochrome Robe in gebrochenem Weiß, wie die Überlieferung suggerierte; auf ihm war das Universum ehelicher Szenen in kontursicheren Zügen und kräftigen Farben wiedergegeben, Hochzeit, Gastmahl, Eberjagd, Erntefest, Koitus und Küchenstreit umgreifend. Nach diesen Grabungen wird das Museum Alteuropas einer Sammlung von Schätzen aus dem Wrack des Nie-Dagewesenen gleichen.
5 Platons Asche
Dem russischen Gelehrten Nikolaj Fedorov (gestorben 1903) verdankt man die äußerste Zuspitzung der Wiederholungs-Idee: In seinen Schriften, die unter Ideologen der Oktober-Revolution Furore machten, tauchte ein Postulat auf, das heute in hochdotierten Oligarchenreligionen und in den kältetechnischen Projekten kalifornischer Metaphysik wiederkehrt: die Wiedererweckung der Toten. Bei ihm wurde die Praxis der Archäologie auf gewesenes Menschenleben ausgedehnt. Wer heute am Leben ist, sollte Fedorov gemäß die Verpflichtung empfinden, seinen Vorfahren zur irdischen Auferstehung zu verhelfen.
Fedorov begriff den Materialismus seiner Zeit als striktes metaphysisches Programm: Was je als Mensch gelebt und gewirkt hat, darf und soll wiederkehren, ganz wie das Christentum in seiner Lehre von der Auferstehung der Toten es formuliert hatte. Der Materialismus muß zur Auferstehungstechnik fortentwickelt werden. Wir holen nicht nur Statuen und Torsi aus der Erde herauf, wir sind dazu berufen, unsere Ahnen erneut zum Leben zu erwecken. Wo Lapidarium war, soll posthistorisches Vital-Museum werden: Es bietet Spazier-Raum für alles menschliche Dasein, das jemals existierte. Das Museum wandelt sich zur absoluten Agora; in ihm werden Friedhof, Paradies, Sanatorium, Weltkirchentag und Kirmes eins. Dort erstatten die aktuellen Kohorten von Geborenen den vor ihnen Geborenen und Verstorbenen Tribut. Hierzu reicht eine bloß polit-ökonomische Revolution nicht aus. Nicht bloß das Privateigentum an „Produktionsmitteln“ muß aufgehoben werden, mehr noch ist das Privateigentum an Lebenszeit aus der Welt zu schaffen. Ohne Immortalismus kein Neuer Mensch. Nur Unsterbliche sind sozialismusfähig. Im absoluten Museum wird Lebensschuld beglichen bis hinauf in adamitische Zeit. Dort erst wird man mit den „Vätern“ quitt für das, was ihnen zu verdanken ist. Das Museum wird zum Ort der Rückzeugung, die traditionell „Auferstehung“ heißt.
Die Erde soll demnach zum Forum eines Gattungsplenums werden. Eines Tages wird der Satz gelten: Es gibt kein Außerhalb des Museums. Daraus erschließt sich erst der tiefere Sinn unserer Befassung mit der griechischen „Antike“. Auf sie gehen die ersten für uns Europäer ernsthaft annehmbaren Menschenbilder zurück, ob man nun Hegels Ästhetik folgt oder nicht. Obgleich die griechischen Statuen von strahlenden Kuroi und Kores nicht ohne Idealisierung auskommen, verbreiten sie die gute Nachricht von unserer potentiellen Ähnlichkeit mit ihnen. Seit damals dürfen wir wissen, Menschsein und Schönsein sind zuweilen konvergent. Nachdem griechische Bildhauer die Menschengestaltigkeit von Göttern beschworen hatten und somit indirekt die Göttergestaltigkeit von Menschen , schauen uns aus der Tiefe der Zeit die Schönheitsmonstren an, Mahnbilder der Vollendung, erscheinender Geist, der durch die Marmorhaut leuchtet. Für die heutige Mode ist die griechische Klassik zur Leitkultur geworden. Die Magna Graecia der Gegenwart schließt Paris, Peking und Patagonien ein. Hingegen bleiben die mesoamerikanischen Fratzen, kaum anders als drohenden Masken Asiens und Afrikas, unerhellbare Rätselbilder; sie existieren Lichtjahre entfernt von jedem für uns verständlichen human-kosmetischen Sinn. Hegel kannte keine Scheu, den Bildwerdungen der indischen Gottheiten „ekelhafte Verzerrungen“[1] zu attestieren. Für manche der hellenistischen und spätrömischen „Portraits“ mit ihren allzumenschlichen, ja grotesken Zügen wird er Ähnliches bemerkt haben. Ihnen verdankt man die unwillkommene Einsicht, wonach die präzis getroffene Individualität oft nichts anderes ist als ein anderer Ausdruck für Häßlichkeit –im Gegensetz zu dem, was Hegel in seinen überhöhenden Ausführungen zur „geistigen Individualität“ griechischer Plastiken der mittleren Klassik statuieren wollte.
Auf Fedorovs Spur wäre zu fordern, unter allen Bewohnern der griechischen Vergangenheit Platon zuerst zur Auferstehung zu fördern. Wie kein anderer war er für die Idee verantwortlich, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts „Museum“ heißt: es verkörpert mit terrestrischen Mitteln Platons „überhimmlischen Ort“, die Heimat der eidetischen Modelle, die Sammelstelle des klassizistisch aufgefaßten kallon, des puren Schönen in seiner mit dem Häßlichen noch unvermischten Erscheinung. In der „Asche der Väter“ muß also nach Platons Spuren geforscht werden, falls es unter den Alten neben Christus einen privilegierten Kandidaten für die Auferstehung im Weltmuseum gäbe. Fedorovs Wahn zielte nicht bloß auf die Umkehrung der Entropie: Diese kam dem Postulat gleich, die Sonnenstrahlen sollten sich auf ihrer irreversiblen Reise in sonnenferne Zonen eines Besseren besinnen und zu ihrem Emanationsort zurückkehren. Der Wahn enthielt die Forderung, die heutigen und künftigen Erben von Hochkultur schuldeten ihren Schöpfern nicht bloß Lektüre, Andacht und Kommentar, vielmehr geradewegs die Wiederherstellung ihres physischen und mentalen Seins. Andernfalls bliebe unter materialistischen Prämissen der Tod der Herr der Welt. Der dominierende Nihilismus tarnt sich als Vitalismus, der Vitalismus aber ist umgepolter Mortalismus. Bis zur Aufhebung des Entropiegesetzes sind die über die Erde verstreuten Museen aus den noch unerweckten Partikeln von Platons Asche miterbaut. Man mag sich an dem Gedanken trösten, daß auch die unerlösten Aschen des Diogenes und des Epikur bis auf weiteres mit überirdischer Geduld der Rückkehr in ihre leibliche Gestalt entgegensehen.
6 Postludium: Wohin mit allem?
Für die Ökonomie des Kunstsystems unserer Tage sind drei Faktoren vorrangig prägend: Appropriation, Restitution, Überproduktion. Der erste betrifft die Aneignungsverhältnisse, ohne die sich weder Kultwerke vor der Kunst noch Kunstwerke nach dem Kult verstehen lassen. Was Kunstwerke im engeren Sinn angeht, so existieren sie, sofern sie als Mobilien angelegt sind, von vorneherein mit der Aussicht auf Besitzerwechsel. Sie gehen aus den Werkstätten von Herstellern ins Eigentum der Erwerber über. In anderen Fällen fungieren sie als durch Kultherren bestellte Kultobjekte; solchen kann es in späterer Zeit widerfahren, zu Kunstwerken umdeklariert zu werden. Weil die Kultgeschichte wesentlich älter ist die „Kunstgeschichte“, geschah es aus gutem Grund, wenn die neuere Kunstwissenschaft sich in Bildgeschichte erweitern wollte: Tatsächlich fällt der Hauptteil des für Menschen eigentümlichen Bild-Vermögens bzw. der kultur- und person-spezifischen Bild-Akt-Fähigkeit in die Ära „vor der Kunst“.
Der zweite Aspekt bringt ungeregelte Besitzerwechsel zur Sprache: Da Kunstwerke nicht selten in einem rechtsfreien Raum „erworben“ und wie glänzende Beutestücke ausgestellt werden, oft vor kolonialen und kriegerischen Hintergründen, gehört die Frage der möglichen Herausgabe an frühere „Eigner“ zu den neuerdings üblichen Werk-Geschichten. Dies geschieht naturgemäß ausschließlich in stark verrechtlichten Eigentumskulturen zeitgenössisch westlichen Typs; sie stoßen seit einer Weile auf ein „post-imperiales´“ Interesse an Sammlung in umgekehrter Richtung: Die Ära der Gegenkollektion hat seit geraumer Weile begonnen. Es läßt sich vorhersehen, wie mit den digitalen Kopiertechniken bisher unbekannte Eigentums- und Rechtsansprüche aus den Akten schießen. Nicht nur werden die Rechte-Inhaber an „Originalen“ Einsprüche gegen die Herstellung von identischen Kopien geltend machen; es werden auch Besitzer von Kopier-Programmen und humane Praktiker virtuoser Imitation – vormals „Meister“ – Ansprüche auf die Anerkennung von originalfreien Meisterwerken „im Stile von“ erheben. Obendrein ist nicht auszuschließen, daß manche neue „Kulturnationen“ oder einzelne Nachkommen von enteigneten Stämmen patent-analoge Ansprüche auf Dividenden aus ikonischen Modellen künftiger Imitate erheben werden.
Der kritische Fall tritt nicht nur für die Künstler der „klassischen“ Moderne ein: Wie bemerkt, haben diese so gut wie nie alles ausgeführt, was sie im Rahmen ihrer Werk-Syntax hätten herstellen können – weswegen bei ihnen quasi „werkimmanent“, innerhalb des autor-typischen Paradigmas, Raum für stimmige „Zusätze“ geblieben war.[2] Wer spürte nicht den Reiz, der von der Vorstellung ausgeht, man dürfe eine Werkstatt-Saison mit den Avataren von Vermeer, von Watteau, von Monet oder Klinger zu verbringen? Die Option für „nachträglichen Zuwachs“ ergibt sich in erhöhten Dimensionen für die ältere „Klassik“, das heißt für die maßgebenden Werke der antiken Welt – um von den Figuren des Klassizismus zu schweigen. Ohnehin hat man Grund zu der Annahme, von den Meisterstücken der Alten sei ein Großteil verloren – man kann nicht einmal mit zureichenden Argumenten erschließen, ob die Verluste ein Drittel, zwei Drittel oder neun Zehntel eines Opus umfassen. (Von den Bronze-Originalen des Polyklet hat sich kein einziges erhalten.) Umso freier geraten die Spielräume, die für virtuelle „Meisterwerke“ einer Ex-post-Antike offenstehen. Sie werden aus Algorithmen generiert, mit deren Hilfe die Werk-Syntax der einstigen Schöpfer errechnet und ausgedruckt werden kann, mitsamt ihren inhärenten Variablen und werkeigenen Steigerungsräumen.
Diese Überlegungen zielen auf eine zunächst absurd klingende Konklusion: Es ist nicht auszuschließen, daß ein gutteil vergangener „Kunstgeschichte“ vor uns liegt. Künstliche Künstler könnten in Bälde ergänzen, was historische Künstler zu schaffen versäumt oder vermieden haben. Hierdurch ergibt sich wie von selbst der Zugang zum dritten Aspekt in der Ökonomie des zeitgenössischen Kunstsystems – ein Aspekt, der auch bereits in bezug auf jede ältere Kunst geltend zu machen ist. Von alters her reimt sich Kunstwerkmacht auf Überproduktion. Wo Kunst entsteht, ist das Zuviel im Raum. Schon die Bandkeramiker produzierten mehr dekorierte Töpfe, als sie selbst brauchen konnten; bereits die Menschen steinzeitlicher und metallzeitlicher Stufen entsorgten ihre Überschüsse an Ringen, Waffen, Masken, Ketten und Silberschüsseln mit Vorliebe in Häuptlingsgräbern. Für die klassische Antike ist die Konvergenz von Handwerk, Industrie und Kunst eine etablierte Tatsache, gleichgültig ob die Kunstseite der Trias zum Pol des sakral Erhabenen tendierte oder dem des weltlich Schönen. Für das christliche Mittelalter und die frühe Neuzeit Europas ist der maßlose Überschuß der religiös motivierten Kunstindustrie bis zum Überdruß bezeugt. Vollends führt die Moderne zum Zerbrechen der Gefäße – die Werkfluten haben die Wände der Museen, der Depots und der Zwischenlager längst überstiegen. Man hat sogar die Behauptung aufstellen können, wonach die Mehrheit aller Künstler, die in der Menschheitsgeschichte tätig waren, gegenwärtig am Leben sind. Ob das nun zutrifft oder nicht, das Problem des Zuviel wirft auf das gesamte Ökosystem der Künste seinen Schatten.
Das Phänomen der Überproduktion ist innerhalb des Kunstsystems unlösbar. Es wird sich ins Chaotische steigern, sobald die Überproduktionen aus Werkstätten lebender Produzenten von den Überproduktionen aus den factories intelligent programmierter Kunstmaschinen überlagert wird. Aus dem Zuviel aus erster Hand erwächst das künstliche Zuviel an Zuviel. Nichtsdestoweniger scheint es möglich, dem Unlösbaren eine Form zu geben, in der es sich bewegen kann. Die einfachste Nicht-Lösung, die weite Spielräume schafft, wird durch die rückhaltlose Bejahung des Zuviel gewonnen. So wie dem Wort des Dichters zufolge genug nicht genug ist, wird auch zu viel nicht zu viel sein. Auf dem Pfad der primären Überproduktions-Bejahung ist jeder Mensch als Künstler zu deklarieren, jedes Werk ist es wert, geschaffen zu werden. Omne opus est bonum. Was nicht geschaffen wurde, fehlt der Welt, sollte auch niemand existieren, der das Fehlen bemerkt.
Im sekundär bejahten Zuviel werden die perfekten Imitate, gelegentlich mit einem Mehrwert aus gesteigerter Kopie befrachtet, ihren eigenen Raum erzeugen. Omnis imitatio est bona. Die Ästhetik des Nie-zuviel geht mit offenen Arme auf die Informalisten, die Egalitären und die Anthroposophen in ihren weiblichen, männlichen und intermediären Verkörperungen zu. Sie bejubelt signierte Nudistinnen, die die Bühne stürmen, sie bejaht den Anblickswert von eintausend Splitternackten beiderlei Geschlechts vor der Münchener Staatsoper, Haut an Haut auf dem Pflaster liegend. Alle haben sie die Tendenz gemeinsam, der Inflation mit dem guten Gewissen das Wort zu reden. Zuviel heißt nicht nur, daß den bildlichen Dokumenten von beliebigen Events ein Übermaß an leicht verfügbaren Ansichten gesichert wird; es heißt auch, daß kein Objekt für die Ausstellung und Aufbewahrung zu schlecht sein muß.
Die zweite Nicht-Lösung, die behauptet, eine Lösung zu sein, besteht in der Option, der Überproduktion eine rigide Selektion entgegenzusetzen. Sie widmet sich dem Versuch, das Zuviel durch eine Strategie der Deflation zu zügeln. Hierin kommen Sammler, Museumdirektoren, Galeristen und lebende Erfolgskünstler überein. Sie eint das Interesse an der Rarifizierung der Werke, die als Werke gelten dürfen. Nur die „wahren Werke“ sollen wirkliche Werke und Werte sein, indes alles übrige von vornherein keine Kunst ist. Auf diesem Weg kommt, obschon meist indirekt, nicht bloß das ältere Meisterwerk-Konzept wieder zum Tragen, das per se den Seltenheitswert in sich trägt; auf diese Weise wird auch das Motiv des Sammlungswerts bis auf weiteres erfolgreich durchgesetzt; zu diesem bildet die Idee des Ausstellungswerts die Vorstufe – wie die Seligsprechung zur Heiligsprechung. Der Zuspruch von Sammlungswert bildet das weltliche Analogon eines Sakraments. Die Sammlung bildet eine gegenständliche communio sanctorum. Wo Heilige sind, ist die Trennung der wenigen Erlösten von den vielen Verworfenen vollzogen.
Was offen bleibt, ist die Frage, was aus dem Zuviel werden soll, das nicht in den Himmel und nicht ins Museum kommt. Bis jetzt haben Museum und Sammlung das Ihre dazu getan, die Inflation zurückzudrängen. Dies ändert am Zustrom aus dem viel zu Vielen nichts. Sobald die künstlichen Künstler das Kommando übernehmen, werden sie die Märkte bestimmen wie die chinesischen Textilien es jetzt schon in den Boutiquen tun. Die Folgen sind so vorhersehbar wie umwälzend. Binnen weniger Jahrzehnte wird niemand mehr verstehen, warum Meisterwerke teuer sein mußten. Wer nicht rechtzeitig verkauft hat, bleibt auf überbewerteten Originalen sitzen. Die zweite Antike, die vor der Tür steht, wird die bisherige Kunstgeschichte als ganze umfassen. Die künstlichen Künstler der Zukunft versetzen die bisherigen humanen Produzenten von Kunst in eine neue Art von „Altertum“. Sie bringen das Prinzip Meisterschaft ins Spiel zurück, weil Kunstmaschinen, die ihr Programm nicht könnten, nicht in Betrieb genommen würden. Ihre Programmierer werden die Brücken zwischen den Weltaltern bilden.
Das imaginäre Museum verläßt die Bildbände. Es wandert als virtuelle Kunstsphäre überall in die Lebenswelten ein. Dann erlöschen die Gegensätze von Meisterwerk und Zuviel wie die von Himmel und Hölle. Wo alles Museum sein könnte, fällt die Notwendigkeit von privilegierten Sammelstellen beiseite. So wird ein Teil der Fedorovschen Vision der Verwirklichung nahekommen. Nicht die Künstler, ob aus antiker oder neuerer Zeit, werden auferstehen, doch werden ihre Werke dank der reproduktiven Inflation imstande sein, vielfach wiederzukehren, von Aura-Unfug ungetrübt, um sich dank der Vervielfältigung beunruhigend zu erneuern.
[1] G.W.F.Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Werke 16, Frankfurt a. M. 1986, S. 339.
[2] Wolfgang Beltracchi weist in einem NZZ-Interview von 2016 darauf hin, daß sich die weitaus meisten Besitzer seiner epigenetischen Meisterwerke nach der Aufdeckung seiner Tätigkeit n i c h t bei Gerichten oder Experten gemeldet haben. Hieraus ist zu folgern, viele Sammlungsbesitzer, haben sich mit der Idee des epigenetischen Originals angefreundet.
Renaissance und Barock
Kunst und Macht oder: Über die Entstehung der Frage »Wer macht Kunst?« – Rainer Metzger
When will you make an end? – When I’m finished
Filmdialog zwischen Rex Harrison als Papst Julius II. und Charlton Heston als Michelangelo in Carol Reeds „The Agony and the Ecstasy“ von 1965
Mit diesem Eingangszitat wird dem Englischen zu seinem Recht verholfen, das ansonsten in der Sache der Renaissance eher unterbelichtet bliebe. Doch auf eine Sprache mehr kommt es nicht an. Die „Rinascità“, in der der italienische Kunstliterat Giorgio Vasari die Konjunktur der Künste speziell in seinem 16. Jahrhundert als Wiedergeburt verortete, die der französische Historiker Jules Michelet 1833 für die Geschichte seiner Nation in sein Idiom übertrug, und die Jacob Burckhardt in seiner „Kultur der Renaissance in Italien“ 1860 zurück ins Ursprungsland versetzte, ohne sie zurück zu übersetzen: diese Renaissance, die italienisch spricht, einen französischen Namen trägt und deutsch sozialisiert ist, die lateinisch erzogen wurde und dabei auch noch Brocken des Griechischen, des Arabischen und des Hebräischen eingefangen hat, ist polyglott. Ihr Medium ist die Sprache, und deren Medium wiederum ist der Text. Davon haben nicht zuletzt die Bilder profitiert. Sie sind nun Kunst.
Das Eingangszitat ist historisch verbürgt. „So geschah es, als Michelangelo ihn um Erlaubnis bat, den Johannestag in Florenz feiern zu dürften und ihn dafür um Geld ersuchte. Darauf sagte dieser: ‚Gut, und diese Kapelle, wann wird sie fertig?‘ – ‚Sobald ich dazu komme, Heiliger Vater‘.“1 Giorgio Vasari erzählt die Geschichte in seiner ausufernden Lebensbeschreibung des Meisters. Die Vita Michelangelos setzt die Haupt- und Staatsaktion im Konvolut der „Vite“, 1550 in erster, 1568 in zweiter Auflage erschienen, seine Biografie ist die bei weitem längste, sie ist die einzige zu Lebzeiten eines Dargestellten verfasste, und sie folgt beflissen einer Fortschrittshypothese, so dass alles Vorhergehende in diesem Künstlertum zur Vollendung zu kommen scheint. Michelangelo gibt die Personalunion nicht nur aller Könnerschaft in Malerei-Skulptur-Architektur, er ist genauso Dichter, Forscher, Spiritualist. Ihm allein gelingt es, die Natur, die alte Lehrmeisterin, zu übertreffen. In Michelangelos „Superatio“ ist die herkömmliche Formel von der Nachahmung, der Imitatio, der Mimesis suspendiert. Kein Wunder, dass der Papst, der ein Dutzend Kardinäle machen konnte, aber keinen zweiten Michelangelo, sich um seine Pretiose besonders bemühte. So geht Vasaris Geschichte also weiter:
„Der Papst, der einen Stock in der Hand hatte, schlug nach Michelangelo mit den Worten: ‚Sobald ich dazu komme, sobald ich dazu komme! Ich werde dich schon dazu bringen, sie fertigzustellen!‘ Als Michelangelo dann nach Hause gegangen war, um die Vorbereitungen für seine Reise nach Florenz zu treffen, schickte der Papst in der Befürchtung, daß er widerspenstig werden könnte und um ihn zu versöhnen sogleich seinen Kämmerer Cursio zu ihm, der den Papst damit entschuldigte, daß dies doch alles nur Gunstbeweise und Liebenswürdigkeiten seien.“2
Der Papst entschuldigt sich also beim Künstler, der Auftraggeber beim Auftragnehmer. Umfangen vom Himmel der Sixtinischen Decke, um deren Fertigstellung hier gerungen wird, begegnen sich Florentiner Handwerkermilieu und Frühabsolutismus gewissermaßen auf Augenhöhe. Julius II. wird ihm diese unerhörte Begegnung von Kunst und Macht in einer gemeinsamen Perspektive reichlich vergelten: ökonomisch und vor allem mit der Bestellung eines Grabmals, das Michelangelos Lebensaufgabe und Lebensverdruss wird. Unter den vielerlei Werken, die er unvollendet hinterließ – Vasari prägt dafür den Begriff „non-finito“ –, ist das Juliusgrab das monumentalste: letztlich aus sieben statt aus über vierzig Figuren bestehend, an die Wand geheftet statt frei stehend, in der füglich nebensächlichen Kirche San Pietro in Vincoli statt im eigentlichen San Pietro im Vatikan aufgestellt und mit dreißig Jahren Verspätung inauguriert. Zwischen 1505 und 1542 sind Verträge erhalten und Zahlungen dokumentiert. Bei aller Unbill: Einer der Einschlägigsten aller Künstler war jedenfalls auch einer der Reichsten.
Se non é vero é ben trovato, sagt man in Italien, und wenn die Geschichten, die Vasari erzählt, auch nicht alle ganz stimmen mögen, so sind sie doch gut konstruiert. Geschichte ist sowieso Historie und Narration in einem. Keiner, der diese Gemengelage unbekümmerter ausbreitete als der Verfasser der „Viten“. Das perfekte Instrument zur Darbietung von Ereignis und Erzählung in einem, ist ihm dabei die Anekdote. Vasari hat Kunstgeschichte geschrieben, indem er Kunstgeschichten schrieb. Und die wiederum sind Künstlergeschichten. Vasari hat Lektüre und Legendarik zusammen gebracht, antike Vorbilder eingearbeitet, eigene Recherchen unternommen und Mutmaßungen angestellt zum ewigen Lob seines Brotherrn, Cosimo Medici, und zur höheren Ehre seines Metiers. Künstler war er schließlich selber. Bei aller Plauderei hat er dabei nicht weniger als eine Terminologie geprägt.
Vasari konnte sich dabei aus eineinhalb Jahrhunderten bedienen, die sich an der Verbalisierung bereits abgearbeitet hatten. Immer schon waren Texte den Bildern vorgängig gewesen, hatten Sujets, Motive, Themen geliefert, die alten Wahrheiten aus Historie, Mythologie, Religion; die Bilder lieferten dazu nichts anderes als die Illustrationen. Doch nach 1400 ändert sich das Reiz-Reaktions-Schema. Die Bilder werden selber Thema. Es wird über sie räsoniert, debattiert, diskutiert. Nicht, was auf ihnen drauf, sondern was in ihnen drin ist, macht sich geltend. So ergibt sich eine eigene Meistererzählung, wie die Texte, die sich um Leben und Werk von Malern, Bildhauern, Architekten ranken, immer differenzierter werden, in ihrer Begrifflichkeit präziser und zugleich offener für die unhintergehbare Unterschiedlichkeit von Literarischem und Bildnerischem. Das bildnerische Milieu wird von Reflexion erfasst, und schließlich haben sich die Produkte so fundamental geändert wie ihre Produzenten. Ob dabei der Fluss für das Tal verantwortlich ist oder das Tal für den Fluss, ist nicht zu entscheiden. Das Terrain jedenfalls ist von einer Art des Austauschs besetzt, die man heutzutage „Diskurs“ nennen würde. Die Renaissance markiert das Zeitalter der Theorie. An ihrem Ende darf sich Meister Michelangelo dann als göttlich, „divino“, hagiographieren lassen. Und was er betreibt, ist Kunst, „arte“, jene seltsam unbestimmte Qualität im Singular, die gerade in dieser Unspezifik auf Betriebstemperatur kommt.
„Schri Kunst schri und klag dich ser din begert jecz niemen mer“: Diese mysteriöse Beschwerde lässt sich, zusammen mit der Jahreszahl 1432 und dem Autorennamen Lucas Moser, auf einer Rahmung lesen, die einen Altar im baden-württembergischen Tiefenbronn einfasst. „Kunst“ steht einfach so da, die Verwendung des Wortes mutet modern an, und ganz ist nicht schlau zu werden aus diesem Stück Deutschsprachigkeit. Jedenfalls hat sich da einer, und es gibt keinen Grund, es dem Maler als Urheber in Abrede zu stellen, ein Problem von der Seele geschrieben, zur Bekräftigung folgt noch ein „o so we“ in der Zeile. Lucas Moser spielt durchaus geschickt auf der Klaviatur der Künstlerklage. Aufbegehren, jammern, unzufrieden sein wird fortan einen gehörigen Beitrag leisten zur Ausbildung jener Individualität, die aus dem Handwerker einen Künstler macht, aus dem anonym Ausführenden eine respektable Größe – aus dem Außendienstmitarbeiter eine Ich-AG. In der Renaissance wird eine neue Dimension an menschlicher Artikulationsfähigkeit greifbar: Man entdeckt, man erfindet die Aufrichtigkeit. In die Arbeit fließt ein, dass es einen Arbeitenden gibt, der sich nicht nur ohnedies in Metier und Medium geltend macht, sondern der sich darin auch geltend machen will. Mit heutigen Worten: Zur bildnerischen Kompetenz kommt ein Element bildnerischer Performanz. Diese Greifbarkeit von Eigenart ist noch nicht durchmischt mit den Elixieren heutiger Wertschätzung, mit Expressivität, Authentizität, Verkörperung. Aber es gibt Momente, in denen das Individuelle den Tigersprung ins Idiosynkratische absolviert. Ein Zirkelschluss entsteht, für den Martin Luthers ominöser Spruch vor dem Wormser Reichstag 1521 „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders“ die einschlägig gültige Formel liefert.
Der Virtuose auf diesem Gebiet ist Albrecht Dürer. Er hat mit seinem Vorzeigestück von 1500 das kanonische Selbst-Bildnis schlechthin ins Werk gesetzt, er hat sich zeichnerisch in den frühesten Selbst-Akt gefügt, er hat mit einem ungeheuer eindrücklichen, die Vision eines Atompilzes am Horizont vorwegnehmenden Aquarell von 1525 eine Art von Traumarbeit durchexerziert. Und er hat, im Sinn der neuen Komplizenschaft von Bild und Bildung, vielerlei Schriftliches formuliert: Als Hinterlassenschaften dessen, was ein anderes Zeitalter „Genie“ nennen wird, sind Briefe überkommen, eine Familienchronik, ein Tagebuch und diverse Lehrbücher zur Weitergabe eines Wissens, das sich als wissenschaftlich verstehen darf. Epochentypisch sind die Übergänge vom Gelehrten zum Gequälten sehr fließend. Notorisch ist Dürers Klage über seine ökonomische Situation. Nicht, dass er schlecht verdiente. Aber Dürer der Unternehmer kann sich Dürer den Maler nicht leisten, weil dadurch Dürer der Graphiker zu kurz kommt. Mit der Massenware der Holzschnitte und Kupferstiche käme das Geld herein, das ihm versagt ist, weil er sich in Aufträge für Altäre verzettelt. Legendär das Lamento, das er während seines Venedig-Aufenthalts 1506 in einem Brief an den Nürnberger Patron Willibald Pirckheimer anstimmt: Ich hab mir selbst ein grau Hoor gefunden. Das ist mir vor lauter Armüt gewachsen und daß ich mich also stenter [ärgere, R.M.]. Ich mein, ich sei dorzu geborn, daß ich übel Zeit soll haben“.3
Dürer ist der kompletteste Künstler um 1500. Er vermisst das Areal der Renaissance, und es erstreckt sich selbstverständlich ins Gebiet nördlich der Alpen. Dürer ist beispielgebend geworden durch seine Reise nach Italien – wie er genauso in die Niederlande gegangen ist. Dürer hat als erster die Möglichkeiten der Massenkommunikation, wie sie sich durch die Druckerpresse ergaben ausgeschöpft, technisch, geschäftlich, im Markieren eines Zeniths, wie er bis heute gültig ist. Dürer hat gewusst, was ein Label ist, kaum eines seiner Hauptstücke, das nicht sein Konterfei aufwiese, bisweilen pikant platziert zwischen die Porträts des Kaisers und der Jungfrau Maria. Längst zum Weltstar geworden fuhr er 1521 in die Weltstadt Antwerpen. Mit der Statthalterin gab er sich dort ein Stelldichein, der Habsburgerin Margarete, der Tante des Kaisers, und er zeigte ihr das Bildnis, das er von ihrem Vater Maximilian einst geschaffen hatte. Er wollte es ihr gar schenken, doch dann kam die Abfuhr: „Do sie ein solchen Mißfall darinnen hätt, do führet ich in wieder weg“, schreibt er ins Tagebuch.4 Offenbar hatte Margarete, der er wenige Tage später die Bestätigung der kaiserlichen Apanage, die er seit einigen Jahren bezog, zu verdanken hat, mit ihrer Begeisterung an sich gehalten. Dürer war beleidigt – und steckte sein Präsent wieder ein. Eine solche Brüskierung hätte sich nicht einmal Michelangelo erlaubt.
Was in Dürer zu perfekter Kenntlichkeit kommt, ist Emanzipation. Er hat sich zum Künstler emanzipiert, und das bedeutet jetzt eine Fülle an Zuständigkeiten. Er ist der Pictor Doctus, der gelehrte Maler, dessen Kompendium an Können schriftlich fixiert ist, das sich fokussiert auf die Texte der Gewährsleute, und das sind jetzt obligatorischer Weise die antiken. Er ist der gesellschaftliche Aufsteiger, der Kontakte pflegt in die Hocharistokratie, der ihre Protektion genießt oder jedenfalls für sie tätig ist, zum Beispiel als Hofkünstler, wo er auf alle Fragen des guten Geschmacks exquisite, delikate, raffinierte Antworten parat hat. Er ist der Selbstdarsteller, der sich gerne schwierig, verschroben, eigensinnig gibt und nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum durchprobiert, was man später Künstlerrollen nennen wird. Darüber hinaus – und anders als in unserer Gegenwart, die sich auch davon emanzipiert hat, bleibt es in der Renaissance das Nonplusultra – demonstriert er Meisterschaft, und Virtuosität. Das pure Können bleibt das Komplement zu jeder Kommentierung. Kein Diskurs in dieser Zeit, der nicht um die eine Evidenz kreiste: technische Brillanz.
Doch auch diese Brillanz steckt in der Fassung von Texten. Um 1490 bringt einer der Großmeister der früheren Renaissance, der Florentiner Sandro Botticelli, ein Thema auf die Leinwand, das man als „Die Verleumdung des Apelles“ kennt. Es erinnert an den legendären Hofmaler des Welteroberers Alexander, und der Genitiv, in den sich Apelles hier einpasst, funktioniert doppelt. Zum einen geht es um eine üble Nachrede, die der Meister zu gewärtigen hatte – angeblich hätte er an einer Verschwörung teilgenommen –, in deren Konsequenz er vor Gericht gezerrt wurde: Einmal mehr findet hier ein Künstler Grund, über die Schlechtigkeit der Welt zu klagen. Zum anderen geht es um ein Bild, mit dem Apelles auf die Verleumdung reagierte. Dieses Bild wiederum wird in einem antiken Stück Literatur beschrieben, Lukian heißt der Verfasser, und nach dem Titel von dessen Buch bringt man derlei Beschreibungen auf den Begriff „Ekphrasis“. Das Gemälde selbst ist nicht erhalten, wie keineswegs sicher ist, dass es jemals außerhalb eines literarischen Zusammenhangs existierte. Botticelli nimmt sich jedenfalls die Beschreibung, die tut als folge sie einer Malerei, vor, um sie wiederum in Malerei umzusetzen. Das Bild zum Text zum Bild: Man muss feststellen, dass derlei hybrides Fortdenken und Fortführen zum guten Ton in der Renaissance gehörte. Die Sache wird dadurch nicht übersichtlicher, dass Botticelli den Hinweis auf Lukian von einem weiteren Stück Geschriebenem bezog, vom immerhin bedeutendsten Traktat zur Ästhetik der Frührenaissance, Leone Battista Albertis „Della Pittura“, 1435 auf Lateinisch, 1436 auf Italienisch herausgebracht. Ein sagenhaftes Gemälde des Apelles aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert, in die Ekphrase transferiert im 2. nachchristlichen Jahrhundert, wieder in den Fokus gerückt in den 1430ern und nunmehr in Malerei umgesetzt um 1490: Wer meint, Renaissance bedeute in diesem Sinn eben die Wiedergeburt der Antike, ist ein schrecklicher Vereinfacher.
Kein Wunder, dass als Ergebnis eines solch unablässigen Umschichtens von Verhältnissen und Bezügen, eines derart peniblen Arrangements von Annäherungen, Aneignungen, Anspielungen der Künstler zur epochalen Gestalt wird: der Künstler als komplette, als komplexe Figur. Ein Zauberwort wäre hier noch nachzureichen, vielleicht der Schlüsselbegriff überhaupt für die Gemengelage, in der sich die Künstlerschaften gegenseitig und miteinander in die Unverwechselbarkeit manövrierten: Paragone. Gemeint ist das Wechselspiel der Konkurrenzen und Rivalitäten, das die Identitäten erst hervorbrachte. Rivalität ist zum einen das gegenseitige Beobachten der Kollegen in der Vorführung dessen, was sie können; das Buhlen um Aufträge und Erringen von Lebenschancen. Paragone ist auch, sozusagen verfeinert, der Gegensatz der Gattungen, die Priorität von Malerei gegenüber der Bildhauerei oder von beiden gegenüber dem Literarischen. Paragone ist schließlich der Streit der Alten mit den Modernen, der Antike mit den Zeitgenossen. Wer sich im Paragone in allen von dessen Dimensionen behauptet, schreibt, was seither seine Kodifizierung erfahren hat: Kunstgeschichte. In diesem Sinn lautet der erste Satz in Ernst H. Gombrichs weltbekannter kunsthistorischer Gesamtdarstellung, seinem in bester Hommage an Vasari als „The Story of Art“ – und nicht „History“ – betitelten Bestseller, dem meinst verkauften Werk der Disziplin: „Genau genommen gibt es ‚die Kunst‘ gar nicht. Es gibt nur Künstler.“5 Die wiederum gibt es, so darf man hinzufügen, seit der Renaissance. Und wie!
„Wie man gesehen hat, wollten die ehrwürdigen Päpste Julius II., Leo X., Clemens VII., Paul III. und Julius II. sowie Paul IV. und Pius IV. ihn stets in ihrer Nähe wissen, was bekanntermaßen auch für den türkischen Sultan Soliman, den französischen König Franz von Valois, Kaiser Karl V., die Signoria von Venedig und schließlich für Herzog Cosimo de‘ Medici galt; sie alle boten ihm ansehnliche Gehälter, aus keinem anderen Grund als um sich sein großes Talent zunutze zu machen.“6
Vasari lässt sich auf der Zunge zergehen, wer nicht alles buhlte um Michelangelo. Die Könige wären nur allzu gern Kunden geworden bei ihm, doch in seiner Unnahbarkeit, seiner unwirschen Art und seiner perfekten A-Sozialität ließ er sie gern einmal abblitzen. Müßig anzumerken, dass Vasari aus Michelangelos Eigensinn wiederum eine ästhetische Qualität macht. Er nennt sie „terribilità“, Ungeheuerlichkeit, in der sich das Erhaben-Sublime mancher seiner Arbeiten und das Furchterregende seines Charakters als eine Art physiognomische Überdeterminierung darstellen. Die angestammten Impulsgeber der Bilderproduktion, all die Autoritäten, die sich politisch, religiös, lebenspraktisch mit Ewigkeit ausstatten wollen, die Kleriker, Potentaten, Aristokraten in ihren diversen Hierarchien, sehen sich angesichts solcher Überfülle an individueller Geltung ins zweite Glied gerückt. Natürlich dürfen sie weiterhin, mehr denn je zahlen. Doch haben sie etwas zu bestimmen? Wer macht nun Kunst in der Renaissance, seit der Renaissance?
Auf eine für all die Komplexierungen der Epoche typische, schier ironische Art bleiben die alten Autoritäten im Spiel. Sie mischen mit in einem Spiel, dessen Regeln neu festgelegt sind. Sie platzieren sich auf dem Areal des Paragone. Wie Rivalitäten und Eifersüchteleien von ihnen arrangiert, angefeuert, hochgejubelt werden, liefert eine der spannendsten Anthologien zur Künstlergeschichte. Schier genüsslich setzen sie sich wieder fest in den Künstlerseelen, aus denen all die soeben ausgelotete Diffizilität sie vertrieben zu haben schien. Als Teilhaber am Paragone tragen sie dabei unvermeidlich zu jener Ausdifferenzierung in den Künsten – und nicht nur in ihnen – bei, durch die sie in langsamer aber unablässiger Bewegung schließlich endgültig in die Randlage geraten.
In der Renaissance befinden sich die Verhältnisse noch in prekärer Balance. Und so kann Kardinal Giulio de’Medici, der Cousin des amtierenden Papstes Leo X. und später als Clemens VII. seinerseits Pontifex Maximus, im Jahr 1516 einen speziellen Auftrag erteilen: an Raffael, den Artisten aus Urbino, der es zum vatikanischen Chefausstatter gebracht hatte und als Paradefigur der Hochrenaissance in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Giulios Titularkirche im südfranzösischen Narbonne sollte ein Altarblatt erhalten, gut vier mal zweieinhalb Meter messend, ein Stück großartiger Repräsentation für einen Kirchenfürsten, der nie in seiner Kathedrale war. Michelangelo, der sich bis dahin in Florenz aufgehalten hatte, reist wie zufällig nach Rom, und bringt Giulio auf die naheliegende Idee zu einer Künstlerkonkurrenz: Er würde seinerseits ein Bild für Narbonne verfertigen, in gleicher Größe und noch gesteigertem Virtuosentum. Michelangelo, der Zerrissene, der nicht wusste, wo ihm der Kopf stand vor lauter Monumenten des Non-Finito, stürzte sich, als wäre er Tagelöhner, in seine Arbeit. Das Terrain für einen perfekten Paragone war bereitet. Raffael, cool, sophisticated, Everybody’s Darling, der traumhafte Vertreter jener höfisch nonchalanten Mentalität, die auf den ebenso wunder- wie unübersetzbaren Begriff „Sprezzatura“ gebracht worden war, ließ Michelangelo zunächst einfach machen. Und der legte los als gäbe es kein Morgen.
Er legte los, indem er kalkulierte. Die kursierende Ästhetik hatte verfügt, dass die Florentiner Domäne in der Kunst bei der Linie läge, im Zeichnerischen, in der Komposition, im, mit dem einschlägigen Begriff, „Disegno“. Woran es ein wenig haperte, sei die Farbe, „Colore“, deren Spezialisten wiederum die Venezianer wären. Ob richtig oder nicht, Michelangelo nahm sich diese Zuteilung zu Herzen. Sehr schlaubergerisch zog er einen Vertreter der venezianischen Malschule heran, Sebastiano del Piombo, der mit Farbe versetzen sollte, was er, der Meister des Entwerfens allein linear fixiert hatte. Das Ergebnis heißt „Erweckung des Lazarus“, gereicht weder dem einen noch dem anderen Künstler zur Ehre und ist die Summe der jeweils schlechten Eigenschaften beider. Heute ist es in Londons National Gallery zu besichtigen, umgeben von diversen Unfertigkeiten Michelangelos und wie zum Hohn gerahmt von Klassikern Raffaels.
Der nun auf den Plan trat und seine legendäre „Verklärung Christi“, die „Transfiguration“, entwarf. Michelangelesker als jedes von dessen Gemälde ist es die Intitialzündung für jene Übersteigerung ins Gespreizte, Groteske, Hochartifizielle, für die der Epochenbegriff Manierismus steht. Raffael hat mit seinem späten Hauptwerk – dessen Reputation es zweifellos zusätzlich zugute kam, dass der Meister kurz nach der Vollendung gerade 37jährig verstarb – nicht weniger als einen Stil auf den Weg gebracht. Natürlich hat Raffael den Paragone himmelhoch gewonnen. Und mit ihm der Auftraggeber: Nicht nur dass Giulio eine Arena abstecken konnte, ein Kampffeld, das ihm wie von selber zufiel durch Michelangelos idiosynkratischen Ehrgeiz. Nicht nur, dass er den Schiedsrichter spielen konnte und schon vorab dezidierte, was ihm der Kanon nur noch bestätigen konnte: Raffaels „Transfiguration“ ist heute in der Vatikanischen Pinakothek zu bewundern, der Auftraggeber hatte es nicht übers Herz gebracht, sich von seinem Meisterwerk zu trennen, er schickte eine Kopie nach Narbonne und behielt das Original bei sich – Michelangelos gutes Stück hingegen ging umstandslos nach Frankreich.
Giulio de’Medici ist in die Geschichte eingegangen: Als derjenige Papst, der den Sacco di Roma erdulden musste, die Plünderung Roms im Jahr 1527, die er erbärmlich kleinlaut im Versteck der Engelsburg über sich ergehen ließ. Giulio ist aber auch in die Geschichte eingegangen, weil er in die Kunstgeschichte eingegangen ist: Als derjenige Auftraggber, um den sich einer der delikatesten Künstlerwettbewerbe überhaupt rankt. Keine Frage, welcher Eintrag in die Weltchronik der attraktivere ist. Geschichte schreiben bekanntlich die Sieger. Seit der Renaissance haben diese Sieger bevorzugt einen Namen: Künstler.
1 Giorgio Vasari, Das Leben des Michelangelo, übersetzt von Victoria Lorini, Berlin 2009, S. 92
2 Vasari, ebenda
3 Albrecht Dürer, Schriften und Briefe, Leipzig, 6. Aufl. 1993, S. 82
4 Dürer, op.cit., S. 59
5 Ernst H. Gombrich, Die Geschichte der Kunst, Deutschsprachige 16. Auflage Berlin 2016, S. 21
6 Vasari, op.cit., S. 195
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